Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band IX. Das Staatsrecht des Königreichs Sachsen. (9)

182 Vierter Abschnitt: Zusammenwirken von Regierung und Volksvertretung. 5 22 
  
3. Verf.-Urk. J88 bestimmt: „Der König erläßt auch solche, ihrer 
Natur nach der ständischen Zustimmung bedürfende, aber 
durch das Staats.wohl dringend gebotene Verordnungen, 
deren vorübergehender Zweck durch Verzögerung vereitelt 
werden würde.“ Damit ist als dritte Art der Verordnung die Notverord- 
nung gegeben. Die Verf.-Urk. gebraucht hier das Wort „Verordnungen“" im strengen 
Sinne unseres heutigen Begriffs, im Sinne von Vorschriften für die Untertanen, die „ihrer 
Natur nach der ständischen Zustimmung bedürfen“: man braucht Rechtssätze, wie das 
Gesetz sie zu geben berufen ist. Vorausgesetzt ist natürlich, daß keine Möglichkeit besteht, 
die Lücke durch eine Ausführungs= oder besonders ermächtigte Verordnung auszufüllen, 
weil deren Bedingungen nicht gegeben sind. Man müßte also den Weg der Gesetzgebung 
beschreiten. Aber das Staatswohl gebietet dringend, daß die Vorschrift sofort ergehe. 
„Deren vorübergehender Zweck durch Verzögerung vereitelt werden würde“, ist nur ein 
verunglückter Ausdruck dafür, daß durch die Zeit, die vorübergehen und verloren würde, 
bis man auf diesem Wege den Rechtssatz erreichte, der Staat möglicherweise Schaden 
erlitte; es kann sich sehr wohl auch um einen dauernden Zweck handeln, dessen rechtzeitige 
Erfüllung vereitelt würde. 
Gegenüber der stets bereiten Verordnung bedeutet der ordentliche Weg der Gesetz- 
gebung eigentlich immer eine Verzögerung. Doch nehmen die deutschen Verfassungen 
ein Übermaß davon nur für den Fall an, daß die Volksvertretung erst zusammenberufen 
werden müßte, verbieten also die Notverordnung, so lange diese gerade versammelt ist. 
Die Sächsische Verf.-Urk. hat diese Bedingung stillschweigend übernommen, indem sie in 
X Abs. 2 von der „nächsten Zusammenkunft“ der Stände spricht. 
O5b im Einzelfall der drohende Schade so bedeutend, die Eile so dringend geboten ist, 
daß die immerhin außerordentliche Maßregel sich rechtfertigt, das ist natürlich Sache des 
ein Landesgesetz ergehen. Statt dessen wurde, knapp vor dem Inkrafttreten des Reiche- 
gesetzes vom Justizministerium jene Verordnung erlassen: „Mit Allerhöchster Genehmigung 
wird auf Grund ständischer Ermächtigung und vorbehaltlich der Genehmigung durch die jetzige 
Ständeversammlung verordnet usw.“. Also eine besonders ermächtigte Verordnung. Unterm 
18. Juni 1900 wird dann das inhaltsgleiche (mit einigen Zusätzen) Gesetz vom König erlassen, 
welches die Verordnung aufhebt, um an ihre Stelle zu treten. — Neben der Verord. v. 5. De- 
zember 1899 erging noch eine Verordnung des Justizministers v. 6. Dezember 1899 (Ges.= u. Verord.= 
Bl. S. 595) zur Ausführung des Reichs-Zwangsversteigerungsgesetzes in den Punkten, dic das 
E.G. dazu v. 20. Mai 1898 nicht der Landesgesetzgebung vorbehalten, sondern der Landesjustiz- 
verwaltung überlassen hatte, und zur Ausführung der, ein Landesgesetz sachlich vertretenden Ver- 
ordnung v. 5. Dezember. Sie nennt sich deshalb eine Verordnung „zur Ausführung der am 
1. Januar 1900 in Kraft tretenden gesetzlichen Bestimmungen über die Zwangsvollstreckung“. Auch 
sie wurde dann, als das wirkliche Landesgesetz da war, förmlich aufgehoben und ersetzt durch die 
zweifelsfreie Ausführungsverordnung v. 19. Juni 1900 (Ges.= u. Verord.-Bl. S. 319). Das 
Verfahren war etwas umständlich, aber sehr gewissenhaft. — Vgl. übrigens auch Verordnung über 
die Kosten v. 18. Dezember 1899 (Ges.= u. Verord.-Bl. S. 611) und Gesetz über die Gerichtskosten 
v. 21. Juni 1900 (Ges.= u. Verord.-Bl., S. 327). Vor allem wird unter die gleichen Gesichts- 
punkte zu bringen sein die oben S. 10 Note 2 angeführte „Verordnung, die Verfassung des 
Norddeutschen Bundes betreffend“! — 
Sehr bedeutsame Ausführungen über diese Erscheinung finden sich im O. V. G. 30. Mai 1907 
(Jahrb. X S. 289 ff). Es wird aber wohl nicht notwendig sein, daß man, wie dort geschieht, an- 
nehme, der § 87 der Verf.-Urk. sei durch Gewohnheitsrecht abgeändert worden. Zu 
den Tatsachen stimmt das nicht gut: Gewohnheitsrecht wird nicht so am hellen Tageslichte 
und so plötzlich gemacht. Es ist einfach die sächsische Auffassung vom Verfassungsrecht zur 
Geltung gekommen, wie sie in Landt.-Mitt. 1863/64 I. K. Bd. 2 S. 1753 vom Oberappellations= 
rat v. König ausgesprochen wurde: das „Einverständnis sämtlicher Faktoren der Gesetz- 
gebung"“ genügt; auf die Form des Gesetzes kommt es nicht so sehr an.
	        
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