Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band IX. Das Staatsrecht des Königreichs Sachsen. (9)

22 Erster Abschnitt: Grundlagen des Staatswesens. 86. 
  
Rechtsordnung sein Gebiet als unverändert ansieht, so muß das auch dem Reiche ge- 
nügen.) 
Handelt es sich um Veräußerungen an einen Bundesgenossen, gleichviel ob 
Abtretung eines bewohnten Gebietsteils oder einfache Grenzberichtigung, so ist die Zu- 
stimmung des Reiches nicht erforderlich. Das Veräußerte bleibt auch in dem neuen Ver- 
hältnis für die verfassungsmäßigen Zwecke zu seiner Verfügung. Selbstverständlich muß 
eine eigentliche Veräußerung dem Reiche zur Kenntnis gebracht werden, damit es seine 
Einrichtungen dem neuen Zustande anpassen kann, insbesondere die nach der Bevölkerungs- 
zahl zu bemessenden Matrikularbeiträge und die aufzubringenden Truppenkontingente. 
Für manche Dinge würde die Form eines Reichsgesetzes notwendig werden, so nament- 
lich behufs entsprechender Anderung des Reichstagswahlgesetzes vom 31. Mai 1869 + 5, 
Abs. 2 und §6, Abs. 4. Das bedeutet überall keine Zustimmung des Reichs, sondern ein 
durch die veränderten Umstände ihm auferlegtes Ziehen der Folgerungen. 
Man hat auch behauptet: es wäre in solchem Falle eine entsprechende Anderung der 
Stimmen im Bundesrat in Frage; bei bedeutenderen Abtretungen könne der verkleinerte 
Bundesstaat die frühere Stimmenzahl nicht beibehalten, der vergrößerte dagegen sei um 
ebensoviel aufzubessern. Allein eine rechtliche Notwendigkeit besteht hierfür nicht. Zum 
Unterschied vom Reichstagswahlgesetz handelt es sich bei der Stimmenverteilung im Bundes- 
rat nicht um die Durchführung und Wahrung eines ausdrücklich aufgestellten Berechnungs- 
grundsatzes. Die Stimmberechtigungen im Bundesrat sind geschichtlich gewordene Ansätze, 
über deren Beibehaltung man übereingekommen ist. Sie bleiben in voller Gültigkeit, 
auch wenn die dahinter vorausgesetzten Machtverhältnisse sich ändern. Sie entsprechen 
diesen ja ohnehin nicht; man braucht bloß die preußische Stimmenzahl zu vergleichen. 
Und wenn die Stimme Waldecks in Ausübung geblieben ist, trotz des Akzessionsvertrages 
mit Preußen, so beweist das, wie wenig Wert gelegt wird auf die hinter solchen Stimmen 
fortbestehende tatsächliche Machtgröße. 11) — 
Neben der Frage der Zustimmung des Reichs zu Verfügungen, die Sachsen über sein 
13) Wir kämen dadurch allerdings zu dem Ergebnisse, daß das Reich zustimmen muß auch zu 
Grenzberichtigungen mit dem Auslande, wenn nach dem Rechte des beteiligten Bundesstaates 
eine solche als gewöhnliche Gebietsveräußerung anzusehen ist. So hat das Reich durch Verein- 
barung vom 24. Juni 1879 der Regulierung der Grenze bei Konstanz zugestimmt. Die badische 
Verf.-Urk. § 3 erklärt jedes Gebietsstück für schlechthin unveräußerlich. Die Frage wäre, ob das 
Reich in solchen Fällen seine Zustimmung schlechthin verweigern könnte oder nur aus Gründen 
der ihm durch die Reichsverfassung zugewiesenen besonderen Interessen. 
14) Laband, Staats-R. des Deutsch. Reichs I S. 183, 184. Opitz, Staats-R. I S. 70, 71 
hält eine Abänderung der Reichsverfassung für notwendig, damit die Gebietsabtretung „tunlich“ 
sei. Zweckmäßig könnte es wohl werden, die Verfassung der neuen Sachlage entsprechend zu ge- 
stalten; aber damit ist keineswegs gesagt, daß die Gebietsveränderung rechtlich dadurch bedingt 
sei, daß das Reich zu einer solchen Umgestaltung seiner Verfassungsbestimmungen schreitet. 
Eine Ausnahme von der Freiheit der Gebietsveränderungen zwischen Bundesstaaten wird 
gern gemacht, wenn der erwerbende Teil der Reservatrechtsstaat Bayern wäre. Der Ausweg, 
daß das an Bayern fallende Gebietsstück „den Hoheitsrechten des Reichs“ dadurch nicht entzogen 
werde, ist nicht gangbar. Wie sollte sich z. B. der militärische Oberbefehl im Frieden für diesen Teil 
Bayerns besonders gestalten? Es wäre also nur die Frage: kann das Reich eine solche Abtretung 
an Bayern überhaupt hindern und verbieten? Als eine formelle Beeinträchtigung dinglich wir- 
kender Hoheitsrechte darf man sich die Sache jedenfalls nicht vorstellen. Da die Reichsverfassung 
nun einmal anerkennt, daß man auch mit Reservatrechten ein gleich guter Bundesgenosse sein kann, 
so ist auch von einer in der Abtretung liegenden Verletzung der allgemeinen Bundespflichten keine 
Rede. Wenn ein Bundesstaat zu solch einer Abtretung sich entschlösse, so müßte er so schwerwie- 
gende Gründe dafür haben, daß der Unterschied, den die Neuerung für das Reich bringt, nicht 
ausschlaggebend dagegen in die Wagschale geworfen werden darf. 
 
	        
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