$ 20. Grenzen der Polizeigewalt. 227
Das Zusammenleben der Menschen wäre nicht möglich, wenn
jeder verpflichtet wäre, alles zu unterlassen, was anderen Nachteil
bereitet und gesellschaftliche Werte zerstörte. Um der gesell-
schaftlichen Notwendigkeit willen wird der Freiheit auch
auf diese Gefahr hin noch Spielraum gewährt; neben spärlichen
Rechtssätzen ist es die Sitte, welche die genauere Grenze bestimmt.
So wird auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts das Eigentum
in naturrechtlicher Weise beschränkt zugunsten unvermeidbarer
nachbarlicher Belästigungen, wie sie das Zusammenleben „ge-
wöhnlich“ mit sich bringt (B.G.B. $ 906). Und der gleiche Ge-
danke macht auch auf dem Gebiete der Polizeigewalt das Publikum
schutzlos gegenüber einem anzunehmenden Mindestsatz gesellschaft-
licher freier Bewegung®.
Noch deutlicher wird diese Bedingtheit der Polizei, wenn es
sich um Wahrnehmung und Durchsetzung wohlbegründeter Rechts-
ansprüche handelt, welche den Einzelnen zustehen gegen ihre
Nächsten oder auch gegen den Staat, die Gemeinde. Daß dem
freies Spiel gelassen werde, das gehört selbst zur guten Ordnung
des Gemeinwesens, mag es auch im Öffentlichen Interesse un-
erwünscht sein, und die Polizei kann, wenigstens auf Grund ihrer
allgemeinen Ermächtigungen, nicht dagegen aufkommen®.
8 Sächs. 0.V.G. 27. April 1901 (Jahrb. I S. 48): Belästigungen durch
wirtschaftliche und gewerbliche Tätigkeit sind nur dann polizeilich zu be-
kämpfen, wenn sie „über das Maß dessen hinausgehen, was die Allgemeinheit,
das Publikum und daher auch der Einzelne als unvermeidliche Folge des
gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen notwendigerweise zu tragen
hat“. Vgl. auch Bad. V.G.H. 26. Febr. 1901 (Reger XXI S. 324); Bayr.
Oberst. L.G. 15. April 1912 (Reger XXIII S. 862); O.L.G. Jena 22. Okt. 1908
(Reger XXIX S. 591); Sächs. O.V.G. 7. Nov. 1906 (Jahrb. X S. 25).
Auch die öffentlichen Anstalten, deren ungestörter Gang schlechthin zur
guten Ordnung des Gemeinwesens gehört, müssen sich Einwirkungen dieser
gesellschaftlichen Freiheit gefallen lassen. Bad. V.G.H. 24. März 189% (Reger
XVI S. 234): zu verwechselnde Privatbriefkästen zugunsten der Postverwaltung
nicht verbietbar. Hierher gehört auch der Fall bei v. d. Mosel, Sächs.
Verw.R.Wörterb. Art. Eisenbahnen VI, 3: Den Fabriken wird polizeilich ver-
boten, Dampfpfeifen zu benutzen, deren Ton dem von Lokomotivpfeifen ähnlich
ist; W. Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung $S. 279, hält es für zulässig.
Allein hier hat doch wohl die Eisenbahnverwaltung selbst ihre Signale so
einzurichten, daß sie nicht verwechselt werden, ohne daß in die Freiheit der
Privatbetriebe eingegriffen werden dürfte. Durch besondere Eigentums-
beschränkungen kann eine Verschiebung zugunsten des öffentlichen Unter-
nehmens eintreten. Vgl. unten Note 16.
® Fiat justitia gilt trotz der Polizei. Wo das öffentliche Wohl gesell-
schaftliche Werte auch dem subjektiven Rechte gegenüber geschützt verlangt,
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