S 5. Der Rechtsstaat. 57
I. Die Voraussetzung unseres Verwaltungsrechts ist der Ver-
fassungsstaat (vgl. oben $ 1, I). Er bedeutet ein Gemeingut
unseres Kulturkreises. Deutschland spielt bei seiner Ausbildung
unverkennbar mehr die Rolle des Nachahmers, des Empfangenden,
namentlich Frankreich gegenüber. Es hat deshalb keinen Sinn,
sich dagegen zu sträuben, daß wir auch die Grundidee mit über-
nommen hätten, nach welcher die anderen ihn nun einmal auf-
gebaut haben. Das ist die viel gescholtene und wenig verstandene
Trennung der Gewalten?.
Es handelt sich wesentlich nur um zwei Gewalten: die
gesetzgebende und die vollziehende; von der sogenannten
richterlichen, die man wohl noch einmal) von der vollziehenden
sondert, können wir absehen.
Beide sind Erscheinungen der einen Staatsgewalt. Die Unter-
scheidung dient in erster Linie dem Zwecke politischer
Machtverteilung: die gesetzgebende Gewalt ist gekennzeichnet
durch den Anteil, welcher der Volksvertretung daran zusteht,
während die vollziehende ausgeht vom Fürsten allein.
® Auch in Frankreich hat diese l,ehre dazwischen Bekämpfungen er-
fahren. Wenn aber L. Stein, Verw. Lehre I S. 18 (1869), behauptete: die
Franzosen hätten selbst schon eingesehen, daß nichts damit sei, „in der
jetzigen Theorie Frankreichs ist sie verschwunden“, so traf das nicht zu.
Herrschend ist sie im Gegenteil dort immer geblieben. In der öffentlichen
Sitzung der Academie des sciences morales et politiques vom 10. Mai 1877
erstattete der berühmte Staatsrechtslehrer Aucoc Bericht über eine gekrönte
Preisschrift, betreffend die gegenwärtige Bedeutung des Grundsatzes der
Trennung der Gewalten, und rühmte daran besonders die Widerlegung der
„eritiques dont il a et& l’objet et qui reposent souvent sur des malentendus
ou sur une tendance au despotisme monarchique ou democratique“. Wir
haben von solchen Kritiken unser reichliches Teil geliefert, und bei uns hatten
sie viel größeren. Erfolg. Laband, St.R. 1. Aufl. (1877) II S. 7 Note, konnte
feststellen: „Eine Kritik dieser Lehre, welche die Einheit des Staates zer-
stört und welche weder logisch haltbar noch praktisch durchführbar ist, kann
hier unterbleiben, da in der deutschen politischen und staatsrechtlichen
Literatur über die Verwerflichkeit dieser Theorie seit langer Zeit fast voll-
kommenes Einverständnis besteht“. In der neuesten Auflage (1911) II S. 7,
ist diese Note samt dem ablehnenden Satze im Texte, an den sie sich knüpft,
erfreulicher Weise gestrichen. Die Sache steht nämlich nicht mehr so, viel-
mehr gelangt die Lehre von der Trennung der Gewalten in unserer Literatur
mehr und mehr zur Anerkennung: Anschütz, Begriff der gesetzgeb. Gewalt
1. Aufl. S. 12, 2. Aufl. S. 10 Note 8; Vierhaus, im Verw. Arch. 198
S. 222 ff.; Smend, Preuß. Verf. Urk. im Vergl. mit der Belg. S. 27 Note 3;
Fleiner, Instit. S.9 ff. Besonders bezeichnend ist für den eingetretenen Um-
schlag, daß bereits Arndt (Arch. f. öff. R. XV. S. 346) den Anspruch erhebt,
in der höheren Wertung dieser Lehre mir zuvorgekommen zu sein.