70 Grundzüge der Verwaltungsrechtsordnung.
das trotz der Form des Gesetzes keinen Rechtssatz, und sein Vor-
rang kommt darin ebensowenig zur Geltung®.
Auch wo der Inhalt des Gesetzes an sich geeignet wäre,
rechtlich zu wirken, kann aus dem weiteren Zusammenhang sich
ergeben, daß das Gesetz seinen Vorrang dafür nicht vollauf geltend
machen will, sondern in der einen oder anderen Beziehung darauf
verzichtet. Gewisse entgegenstehende Anordnungen eines ge-
ringerwertigen Staatswillens werden etwa nicht aufgehoben, sondern
bestehen gelassen. Es gibt sogar Gesetze, welche bereit sind,
ihre Bestimmungen durch Anordnungen geringerer Art abändern
zu lassen®. —
Auch diese Kraft des Gesetzes ist übertragbar. Es kann
nicht nur eine zu erlassende Verordnung vom Gesetze im voraus
mit der Kraft ausgestattet sein, daß sie nur durch ein Gesetz
wieder geändert zu werden vermag, sondern es kann auch einer
Verordnung und sogar einer Einzelverfüguug durch das Gesetz die
Macht gegeben werden, ältere Gesetze zu brechen ’!°.
8 „Sie haben niemals gegolten, weder materiell noch formell“, sagt Jelli-
nek von diesen Dingen mit Recht (Ges. und Verord. S. 338, Eisele, Un-
verbindl. Gesetzesinhalt (Freib. Progr. 1885) S. 33 ff. gibt eine Aufzählung solcher
Fälle. — Vgl. auch Laband, St.R. II s. 63; derselbe, in Arch. f. öfl. R. I
s. 181ff. Dort wird insbesondere auch der Cod. Max. Bav. $ 1 verwertet, wo
es heißt: „Die Rechtsgelehrsamkeit besteht nicht nur in gründlicher Kenntnis
der Rechte, sondern auch in richtiger Anwendung“. Gegen Seidler, Zorn,
v. Martitz, war leicht darzutun, daß ein Gesetz dieses Inhalts keine An-
ordnung oder Norm, keinen Rechtssatz enthält und doch um seiner Form willen
Gesetz bleibt. Die Frage ist aber: äußert auch ein solches Gesetz um seiner
Form willen die „formelle Gesetzeskraft“? Ich kann seine rechtliche Wirkung
nicht höher schätzen als die des großen Faustmonologs. Fehlt hier eine solche, so
ist eine formelle Gesetzeskraft nicht denkbar. Dann darf man aber auch nicht
sagen: „Die formelle Gesetzeskraft ist unabhängig vom Inhalt“ (Laband,
St.R. II S. 57 In. ]).
® Laband, St.R. II S. 72 n. 4.
10 Seligmann, Begr. d. Ges. S. 21, findet eine solche Delegation be-
grifflich unvereinbar mit der formellen Gesetzeskraft, wie er sie mit Laband
auffaßt, sofern eben diese auf der eignen Form des Gesetzes beruht. Wenn
Bornhak, Preuß. St.R. I S. 514, dem gegenüber sich damit beruhigt: was auf
Grund einer Delegation des Gesetzes geschieht, habe ja schließlich doch das
Gesetz selbst gemacht, so verkennt er das Wesen der von ihm angenommenen
Labandischen formellen Gesetzeskraft. Diese „entspricht der Wirkung, welche die
Form der Rechtsgeschäfte hat, insofern ein Vertrag, welcher in einer gesetzlich
vorgeschriebenen Form abgeschlossen worden ist (z. B. ein Ehevertrag oder Erb-
vertrag), nur in entsprechender Form abgeändert oder aufgehoben werden kann“
(Laband, St.R. II S. 68. Kann der notarische Vertrag seine „formelle Ver-
tragskraft“ delegieren? Da hätte doch wohl Seligmann recht.