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und auf demselben Wege in seine Heimat zurückkehrte. Am nächsten
und den folgenden Abenden schwamm der verliebte Jüngling, so-
lange der Mond die Erde erleuchtete, wieder nach dem Singestein,
und eine Ewigkeit schien es den Liebenden, bis derselbe nach seiner
Umlaufszeit wieder sichtbar ward und dem nächtlichen Schwimmer
leuchten Kkonnte, und dreimal schon hatte er seine Bahn vollendet
und der Hirt hatte eines Abends versprochen, morgen zum letzten
Male herüberzuschwimmen, denn am nächsten Sonntag wollte er
zu den Eltern des Mädchens kommen und um die Hand desselben
bitten. Siehe, da wartete gerade an diesem Abend die Hirtin ver-
geblich auf dem Felsen; sie sang ein Liedchen nach dem andern,
welches den Geliebten einladen sollte, allein er kam nicht, und als
sie am andern Tage ihre Ziegen austrieb, da sah sie wohl die
Schafe wie gewöhnlich am andern Ufer, aber ein andrer Hirt
weidete sie. Wie sie nun diesen und die folgenden Abende ver-
geblich auf ihren Geliebten wartete und er immer nicht Kkam, da
kam ihr der Gedanke, es möge ihm ein Unglück widerfahren
sein, und als es mittlerweile Mlitternacht geworden war, ehe sie
sich von der ihr so lieb gewordenen Stelle trennen konnte, sah
sie auf einmal eine weiße Gestalt über dem Strome schweben,
sich dem Felsen nahen, ihn ersteigen und immer näher auf sie
zukommen. Voll Schrech vermochte sie weder ein Wort zu sprechen,
noch den Platz zu verlassen. Da trat der Schatten vor sie hin und
sprach: „Fürchte dich nicht, ich bin dein Bräutigam; als ich das letzte
Wal nach Hause schwamm, haben mich die Götter des Stroms zu
sich hinabgezogen; mir ist wohl, lebe wohl, singe mir aber noch
einmal dein letztes Lied, es soll mein Sterbelied sein.“" Sie sang es,
und wie der letzte Ton verklungen war, da zerfloß auch die Gestalt
in Aebel; das unglückliche Alädchen sank ermattet auf dem Felsen
nieder, schlief ein, erwachte aber niemals wieder. Wenn nun um
Mitternacht der Vollmond auf den Singestein niederblickt, da hört
man klagende Töne von demselben aus erklingen, und deshalb
nennt man ihn den Singestein; ja, man erzählt, daß, wenn der
Todestag der unglüchklichen Braut wiederkehre, Engel über dem
Felsen schweben sollen, die Rosen und Lilien auf ihn hinabstreuen.“
* Wir haben hier eine romantische Einkleidung der Sage von Hero
und Leander vor uns.