Full text: Sagenbuch des Königreichs Sachsen

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von ihnen hütete vor ungefähr 130 Jahren ein armes Mädchen, 
Kuhhirtin auf dem Hofe, Kühe und spann dabei, wie dies in alter 
Zeit bei den Wenden Sitte war, auf der Spindel. Sie war eine 
Gefallene und hatte ihr kleines, ungefähr achtjähriges Söhnchen 
bei sich. Auf einmal kam zu ihr die Mittagsfrau und fragte sie, 
ob sie für sie etwas Garn fertig spinnen wolle. Als die Kuhhirtin 
das versprochen hatte, übergab ihr die Mittagsfrau ein Häuschen 
Flachs, gebot ihr aber dabei streng, daß sie vom Flachse oder auf- 
gesponnenen Garne auch nicht das geringste Bißchen unterschlagen 
dürfe, sondern alles getreulich abliefere. Darauf entfernte sie sich, 
und die Kuhhirtin begann zu spinnen. Als sie mit ihrer Arbeit 
schon zur Hälfte fertig war, kam ihr Söhnchen zu ihr gelaufen und 
klagte ihr, daß er von einem Armel seines Hemdchens das lederne 
Heftel verloren habe, wie es die Wenden damals zum Zuhefteln 
der Hemden gebrauchten. Die Kuhhirtin, welche hierbei an nichts 
Böses dachte, riß einen kleinen Faden vom gesponnenen Garne los 
und band damit des Söhnchens Hemdsärmelchen. Aber sogleich 
stand die Mittagsfrau vor ihr, schalt sie wegen ihrer Untreue und 
verlangte von ihr sofort das gesponnene Garn, wie auch den übrigen 
Flachs. Dann sagte sie zu ihr: „Halte die Schürze auf, hier hast 
du deinen Lohn!“ In die ausgebreitete Schürze streute sie ihr dar- 
auf eine Handvoll — dürren Laubes und verschwand vor den 
Augen der untreuen Spinnerin. Argerlich schüttete diese bald dar- 
nach das erhaltene Laub auf die Erde, denn was wollte sie damit 
anfangen? — Als sie sich zu Hause auszog und sich den Latz ab- 
knöpfte, wie ihn damals die wendischen Alädchen auf der Brust 
trugen, hörte sie, daß etwas Schweres und Klingendes auf die 
Erde fiel. Beim Suchen fand sie ein rotes Goldstüch! Jetzt erst 
kam sie darauf, was das trochne, von der Mittagsfrau erhaltene 
Laub, von welchem ein einziges Blättchen sich hinterm Latze ver- 
stecht hatte, auf sich gehabt hatte, und daß es lauter Gold gewesen 
war. Sie lief zwar sogleich wieder auf die Schanze, um auch die 
weggeworfenen Blätter dort zu sammeln; aber vergebens suchte sie die- 
selben, alles war verschwunden und die Mittagsfrau hatte es vor ihr 
wieder zusammengelesen.“ 
Die Mittagsfrau erscheint in dieser Sage fast als harmloses Holz- 
weibchen. 
23°
	        
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