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musterte, vermißte er die zwei Schöpse und ließ den Alten hart
an. Betrübt lief dieser davon, die Verlorenen zu suchen. Da kam
ein Knecht des Herrn, der dem Schäfer feind war, und verkündete
mit geheimnisvoller Miene, daß der Fleischer soeben zwei Schöpse
von der Herde nach der Stadt getrieben. Der Herr glaubte steif
und fest, es seien die seinigen gewesen und lief stracks dem Schäfer
nach. Als er seiner von ferne ansichtig wurde, schrie er wütend:
„Du heuchlerischer Spitzbube, was suchst du noch, wenn du sie dem
Fleischer verkauft hast?“ — Der Alte wußte nicht, wie ihm ge-
schehen war, und beteuerte hoch und heilig seine Unschuld. Der
Herr aber schrie und tobte und drohte ihm, noch heute all seine
Habe zu nehmen, wenn er die gestohlenen Schöpse nicht ersetze.
Da hub der Alte feierlich an: „Gott im Himmel, erzeige Gerechtig-
keit deinem unschuldigen Knechte.“ — Und er steckte seinen Stab
in die Erde und schwur dreimal und sprach: „Dieser dürre Stab
soll wurzeln, wachsen und gedeihen, wenn ich ohne Schuld bin.
Ist aber der Diebstahl an mir, so zerfalle er jetzunder in Asche."
— Als der Herr am anderen Tage wieder auf denselben Platz Ram,
stand der Stoch und hatte bereits Knospen und schlug aus. Er
wuchs empor zu einem großen seltenen Baum und stand bis vor
wenigen Jahren, ringsum sichtbar, auf einer Hochebene, damit
jedermann sehe, wie der Herr die Unschuld beschützt. (Val. Ar. 745.)
Der Stelzenbaum stürzte in der Aacht vom 18. zum 19. Aärz 1897
vom Sturme gebrochen.
745. Der wurzelschlagende Hirtenstab bei Stelzen.
Variante zu Ar. 744 nach Eisel, Sagenbuch des Vogtlandes, Ar. 680.
Als die Hussiten in Sachsen raubten, sengten und mordeten,
kamen sie auch ins Dorf Stelzen, nach Beute zu spähen und junge
Wannschaft zu allerhand Kriegsleistungen wegzuführen. Wie sie
nun da einem jungen Mann nachsetzen, der auf seiner Flucht in
den Wald ihnen glücklich entwischte, und sie eben im vollen Arger
umkehren wollen, hören sie Schafe blöken und treffen auf einer
Waldwiese inmitten seiner Herde einen alten Hirten. Sofort um-
ringen sie ihn und verlangen zu wissen, wohin sich der junge
Bursche verborgen habe, und obgleich er ihnen bei allem, was ihm