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Jene Wiese soll einst von einem Zauberer bezaubert worden
sein, der auf ihr einen gefährlichen Fall getan, so daß, so schönes
Gras und Klee darauf wuchs, sie doch von ihrem Besitzer durch—
aus nicht benutzt werden konnte, weil die Milch des Viehes, das
von demselben fraß, so blau wie Indigo ward. Aun hatte aber
nicht weit von derselben ein armer Holzmacher seine ärmliche Hütte
gebaut, der, weil er drei Esel besaß, der Eselsgürge genannt ward
und allgemein wegen seiner Gutherzigkeit beliebt und gern gesehen
war. Der zog sich die Grasnutzung dieser Wiese zunutze, und
seine Esel wurden dick und fett davon. Einst bei einem heftigen
Gewitter pochte es des Nachts an seine Hütte, und als er die Tür
öffnete, da trat eine wunderschöne Jungfrau, die trotz des Unwetters
ganz trochen war, weiß verschleiert herein, rosenfarbene Sandalen
an den Füßen und einen goldenen mit Diamanten gezierten Kranz
auf dem Haupte. Sie setzte sich an seinen Tisch; als er ihr aber
Essen und Trinken, sowie sein armseliges Binsenlager zum Schlafen
anbot, wies sie beides zurüchk und sagte, sie bedürfe dieser irdischen
Erholung niemals, und auf sein Befragen, wohin sie wolle, ent-
gegnete sie: „Nach oben, wo ich herkomme.“ Der arme Gürge legte
sich hierauf verwundert wieder nieder, als aber der Morgen an-
brach, weckte sie ihn auf, um Abschied zu nehmen, und als er sie
ein Stück Weges begleitete, fragte er sie, ob sie nicht zufällig die
heilige Jungfrau selbst sei, sie gleiche gar zu sehr dem Bilde der-
selben, wie er es in den Kirchen so oft gesehen. Darauf antwortete
sie: „Ja, ich bin es; du aber, guter Gürge, sollst den Lohn für deine
Gastfreundschaft heute abend erhalten, wenn deine Esel von der
Weide zurüchkkehren.“ Damit verschwand sie. Als nun die Sonne
im Untergehen war, da ging der Gürge voll Meugier seinen Eseln
entgegen, allein er konnte nichts an ihnen wahrnehmen, als daß
ihre Müäuler blutig waren. Da es nun auf der Wiese weder Dornen
noch scharfe Gräser gab, die Esel auch bekanntlich wegen ihrer Hart-
mäuligkeit solche nicht verwunden khönnen, begab er sich an Ort
und Stelle und trat plötzlich auf etwas Spitzes. Er griff darnach
und zog einen Goldbarren aus der Erde, ja er fand ohne viele
Mühe eine Menge davon. Er holte also seine Esel, die sich daran
blutig gefressen, und trieb sie schwerbeladen in sein Hüttchen zurück.
Am andern Morgen aber, wie er seinen Reichtum beschaute, be-
schloß er davon eine Kirche zu bauen. Dies soll die Marientkirche