Das denlsihe Reich und seine einjelnen Glieder. (Jan. 29.) 49
der Handwerkerstand das ihm dargebotene Mittel, wieder zu einer kräftigen
Organisation zu gelangen, benützen wird. Die unbefriedigende Lage des
Handwerkerstandes, welche allgemein empfunden wird und die gegenwärtige
Bewegung hervorgerufen hat, beruht im wesentlichen auf zwei Uebelständen:
der Lockerung und Verkümmerung des Gesellen= und Lehrlingsverhältnisses
und der Concurrenz, welche dem Handwerk durch den Großbetrieb von der
einen, durch das sogenannte Pfuscherthum von der anderen Seite erwächst.
Dem ersteren Uebelstande hat die Gesetzgebung schon durch die in dem Gesehe
vom 17. Juli 1878, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung, ent-
haltenen strengeren Bestimmungen abzuhelfen gesucht; zur vollen Wirksam-
keit werden indessen diese Bestimmungen nur gelangen, wenn ihre Durch-
führung nicht lediglich der ungureichenden Thätigkeit der Polizeibehörden
überlassen bleibt, sondern von kräftigen und gut geleiteten Innungen in die
Hand genommen und durch zweckmäßige genossenschaftliche Einrichtungen
ergänzt wird. Es kann selbstverständlich nicht Aufgabe der Gesetzgebung
sein, der naturgemäßen Entwicklung des Großbelriebs zu Gunsten des Hand-
werkes künstliche Fesseln anzulegen. Soweit die Klagen der Handwerker
sich gegen bestimmte Formen des Vertriebs von Fabrikerzeugnissen, nament-
lich gegen gewisse Answüchse des Gewerbebetriebs im Umherziehen richten,
wird zu erwägen sein, ob denselben durch Abänderung des Art. 3 der Ge-
werbeordnung abgeholfen werden kann. Die Innungen müssen sich der Ver-
vollkommnung der Technik des Kleingewerbes annehmen, namentlich durch
Herstellung günstiger Productionsbedingungen im Wege der Vereinigung der
Kräfte der Innungsgenossen. Daß nach beiden Seiten hin durch die Er-
richtung von Zwangsinnungen oder durch die Ausschließung derjenigen,
welche nicht Mitglieder einer Innung oder nicht geprüft sind, von dem selb-
ständigen Gewerbebetrieb oder dem Rechte mit Gehülfen zu arbeiten, oder
durch Beschränkung des Magazin= oder sonstigen Großbetriebs dem Hand-
werkerstand eine privilegirte Stelle eingeräumt werde, ist zwar von Gliedern
des leßteren vielfach gefordert, in den Verhandlungen des Neichstags aber
von keiner Seite befürwortet und muß, weil mit den Grundlagen der gel-
tenden Gewerbegesetzgebung und den wirthschaftlichen Interessen der Gesammt-
heit in Widerspruch stehend, von der Erwägung ausgeschlossen bleiben. Der
Beschluß des Reichstags beruht auf der Auffassung, daß zu dem Ende die
Innungen, sowie es ohne Anwendung eines directen oder indirecten Zwangs
geschehen kann, wieder zu Organen der gewerblichen Selbstverwaltung für
das Handwerk gemacht werden sollen, welche im Stande sind, durch die För-
derung der gewerblichen Interessen ihrer Mitglieder und durch Pflege des
Gemeingeistes und des Standesbewußtseins eine wirthschaftliche und sittliche
Hebung des Handwerkerstandes anzubahnen. Zu dem Ende sollen die In-
nungen durch Gewährung möglichst freier Selbstbestimmung über die Vor-
aussetzungen der Aufnahme und der Ausschließung von Mitgliedern in den
Stand gesetzt werden, unehrenhafte, unfähige und unsolide Elemente von
sich fern zu halten. Die Zwecke der Innungen sollen so bemessen wer-
den, daß ihnen ein ausgiebiges, die Gesammtheit der gewerblichen Interessen
des Handwerks umfassendes Feld der corporativen Thätigkeit eröffnet wird,
und es sollen ihnen diejenigen Rechte eingeräumt werden, deren sie bedürfen,
um nicht nur die statutarischen Vorschriften den eingelnen Mitgliedern gegen-
über zur Geltung zu bringen, sondern auch für ihren Kreis im Wege der
Selbstverwaltung einen Theil der Functionen übernehmen zu können, welche
im übrigen zur Durchführung gewerbegesetzlicher Bestimmunngen von den
Organen des Staates wahrzunehmen sind. Daneben soll den Innungen, um
ihnen eine Einwirkung auf die über den engeren Kreis einzelner Orte und
Gewerbe hinausgehenden Interessen des gesammten Kleingewerbes zu ermög-
Schulthess. Europ. Geschichtskalender. XXI. Bd. 4