70 Allgemeiner Teil.
V. Dispensationen und Aufhebung von Polizeiverordnungen.
Polizeiverordnungen binden als materielle Gesetze nicht nur das
Publikum, sondern auch die zu ihrer Ausführung und Anwendung
berufenen Behörden.
Z. B. bestimmt 8 145 Zust.Ges.:
„ÜMber Dispense von Bestimmungen der Baupolizeiverordnungen
beschließt nach Maßgabe dieser Ordnungen der Kreisausschuß, in
Stadtkreisen und in den zu einem Landkreise gehörigen Städten von
mehr als 10000 Einwohnern der Bezirksausschuß, soweit die An-
gelegenheit nicht nach diesen Ordnungen zur Zuständigkeit anderer
Organe gehört. «
Diese Dispensmöglichkeit tritt aber nur dann ein, wenn eine be—
stehende Baupolizeiordnung dem Kreis- bzw. Bezirksausschuß eine
solche Dispensation überträgt. So OVG. 9 S. 337:
„Das Recht, Polizeiverordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen, ist ein
den betreffenden Verwaltungsbehörden von der gesetzgebenden Gewalt über-
tragenes jus delegatum und muß sich folglich innerhalb der Schranken der
Delegation halten. Nun wird allerdings durch die Delegation derjenigen
Behörde, welche eine Polizeiverordnung erlassen darf, mit diesem Rechte
ohne weiteres auch die Befugnis gegeben, die von ihr erlassene Polizeiver-
ordnung wieder aufzuheben. Aber davon wesentlich verschieden ist die Dis-
pensationsbefugnis, das Recht, trotz des Bestehens des Gesetzes die
Anwendung desselben auf einen einzelnen Fall auszuschließen, mit anderen
Worten: von dem Gesetze für einen einzelnen Fall abzusehen, im übrigen
aber dasselbe in seiner Wirksamkeit bestehen zu lassen. Hierin liegt an sich
ein Bruch der Rechtsordnung, da das Gesetz seiner Natur nach jeden einzelnen
Fall, auf welchen es überhaupt Anwendung findet, gleichmäßig treffen muß.
Deshalb kann das Dispensationsrecht nur, insoweit es auf gesetzlichem Wege
ausdrücklich verliehen ist, als gegeben anerkannt werden. Eine ausdrück-
liche Ermächtigung, allgemein von baupolizeilichen Bestimmungen dispensieren
zu können, ist den Bezirksregierungen (jetzt dem Kreis= bzw. Bezirks-Aus-
schuß) aber nirgends in den Gesetzen erteilt.
Durchaus verfehlt ist es, ein solches Recht den Bez.-Reg. (jetzt: dem
Kreis= bzw. Bezirks-Ausschuß) in ihrer Eigenschaft als der Ortspolizei-
verwaltung übergeordneten Aufsichtsbehörden zuzuschreiben. Zum Wesen der
Aufsicht gehört nicht die Befugnis, die von den Unterbehörden erlassenen,
mit Gesetzeskraft ausgerüsteten Polizeiverordnungen lediglich für einen ein-
zelnen Fall außer Anwendung zu setzen. Vermöge der Oberaufsicht wird
die Ortspolizeiverwaltung an dem Erlasse einer Polizeiverordnung ge-
hindert oder zu dem Erlasse einer solchen angehalten werden können. Das
Recht der Oberaufsicht wird auch dahin führen müssen, daß die Aufsichts-
behörde unter bestimmten Voraussetzungen eine von der Unterbehörde er-
erlassene Polizeiverordnung wieder aufheben darf. Dieses letztere Recht ist
gesetzlich des näheren geregelt. (Ges. über die P.-V. v. 11. März 1850 8§ 91)
und 16, Kreis-O. v. 13. Dez. 1872 8§782), usp... ). Nach dem vorhin
Bemerkten schließt aber dasselbe eine Dispensationsbefugnis nicht ein.“
1) Jetzt § 145 LVG. 2) Jetzt § 142 LVG.