Full text: Geschichte des deutschen Volkes.

Die Belagerungen. Die Deutschen vor Paris. §§ 771—772. 477 
nenden rauhen Winter erschwert wurde, war eine Riesenunternehmung, ebenso 
auch die Verteidigung einer solchen Stadt. Nur in den gewaltigen Belage- 
rungen der Weltstädte des Altertums, von Ninive und Babylon, Karthago und 
Verusalem findet sie ihre Gegenstücke. Wie sollte man das Werk beginnen? 
Der panische Schrecken, den die Erstürmung der Höhen von Meudon (§ 767) 
gleich beim Beginn der Belagerung unter die französischen Truppen brachte, ließ 
es fast möglich erscheinen, zum sofortigen Sturm auf die südlichen Forts, 
dann zur Beschießung und so zur schnellen Einnahme der Stadt zu ge- 
langen. Aber die ruhige Uberlegung ließ die Sachlage in einem ganz anderen 
Lichte erscheinen. In der Stadt von 2 Millionen Einwohnern standen an 
400000 Mann, teils alte Linien= und Seesoldaten, teils sogenannte 
Mobile (Volksaufgebot) unter den Waffen; die Belagerungsarmee hatte da- 
mals nur 120000 Mann Infanterie und 24000 Mann Kavallerie.,. Sie 
war, da ihre Zahl durch anlangende Verstärkungen nur allmählich (nie viel 
über 200000 Mann) wuchs, zu einem plötzlichen Angriff nimmermehr stark 
genug. Es blieb mithin nur eine regelmäßige Belagerung übrig: aber auch 
diese war ein ungeheures Werk. Es mußte eine Cernierungslinie von 
11 Meilen in der Runde gebildet werden; die Verpflegung der Belagerer 
mußte meist von der Heimat und zwar auf einer einzigen Bahnlinie heran- 
gebracht werden"). Seit der Errichtung der Republik aber schwärmte der 
anze Osten von freiwillig gebildeten, rasch auftauchenden und wieder ver- 
scnindenden Franctireursbanden, die, abgesehen von der einzigen, wol 
bedeckten Hauptstraße, alle Nebenlienien zu unterbrechen suchten und so 
einen Teil der deutschen Armee in fortwährender Beunruhigung hielten. 
Die Franzosen geboten außerdem über alle Eisenbahnlinien des Südens 
und damals auch noch des Nordens, dazu über die See, die von Westen 
und Norden her die Gelegenheit gewährte, Truppen, Kriegsmaterial und 
Proviant an jede beliebige Stelle zu schaffen, wo es ihren Zwecken am 
nützlichsten sein konnte. So boten sich den Belagernden die gewaltigsten 
Schwierigkeiten, und nur Geduld und eiserne Beharrlichteit konnten hier 
zum Ziele führen. Die Belagerten hielten sich indessen im allgemeinen 
aat , nur daß sie gelegentlich ihre noch unersahrenen Truppen in Ausfalls- 
4 echten zu üben suchten. Als sie aber, kühner geworden, sich in dem von 
en Garden besetzten Dorfe Le Bourget im Nordosten von Paris einnisten 
wollten, wurden sie am 30. Oktober in so gewaltiger Flucht wieder hinaus- 
etrieben, daß sich allgemeine Bestürzung in Paris verbreitete und die Aus- 
fiue einstweilen unterblieben. 
772. Bald aber mußten die Belagerer auch ihren Rücken vor Angriffen 
und Entsetzungsversuchen zu schützen suchen. Bereits wußte man im Haupt- 
quartier, daß die Reden und Gewaltmaßregeln Gambettas, der im Luft- 
ballon Paris verlassen, sich zu der Zweigregierung unter Crémieux nach 
Tours begeben und das Kriegsministerium übernommen hatte, das Aufge- 
bot in Masse und den Volkskrieg in Bewegung zu setzen begannen, um 
immer neue republikanische see aus dem Boden zu stampfen; man wußte, 
daß zunächst eine Armee hinter der Loire im Entstehen war. Deshalb 
ward General v. d. Tann mit seinem bayrischen Corps, dem eine Infanterie- 
  
) Dieselbe war bis zur Eroberung von Toul noch dazu unterbrochen und ging uur 
bis Nanteuil, 8 Meilen von der Cernierungslinie, wo zwei Tunnel zerstört und die Bahn 
dadurch verschüttet worden war. Später führte eine neu angelegte Bahn um diese 
Unterbrechung herum.
	        
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