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1. Zusammensetzung und Einrichtung der Ortsarmen-
verbände. "
Jede Gemeinde und jede selbständige Gemarkung 1) bildet, sofern nicht eine Vereinigung
der selbständigen Gemarkung mit einem anderen Ortsarmenverbande stattfindet, für sich je
einen Ortsarmenverband. Haben zwei Gemeinden eine gemeinschaftliche Gemarkung, so
hat jede der Gemeinden für einen bestimmten Teil der Gemarkung die Verpflichtungen als
Ortsarmenverband zu übernehmen.
Die Ortsarmenverbände der Gemeinden werden durch den betreffenden Ortsvorstand
(d. i. Bürgermeister und Gemeinderat bzw. Stadtverordnetenversammlung) vertreten, welchem
die Verwaltung der öffentlichen Armenpflege als Gemeindeangelegenheit obliegt ). Dem
Ortsvorstande ist für die Zwecke der Armenpflege die Bildung von besonderen Deputa-
tionen, und zwar auch unter Zuziehung von dem Ortsvorstande nicht angehörigen Orts-
einwohnern 3), gestattet. Den Vorsitz in solchen Deputationen führt der Bürgermeister bzw.
der Beigeordnete oder ein von diesem hiermit beauftragtes Deputationsmitglied ). Die
Staatsaussichtüber die örtliche Armenpflege führt, soweit nicht besondere Zuständigkeits-
bestimmungen bestehen, der Kreisrat.
Sämtliche Ortsarmenverbände eines Kreises bilden zusammen einen Landarmen-
verband. Die Verwaltung der Angelegenheiten des Landarmenverbands obliegt, soweit
der Kreistag nicht etwas anderes beschließt, dem Kreisausschuß (KO. Art. 48 II Ziff. 4).
2. Art und Maß der Armenunterstützung. Jedem, dem Gebiete des Unter-
stützungswohnsitzgesetzes angehörigen hilfsbedürftigen Deutschen ist von dem unterstützungs-
pflichtigen Armenverbande Obdach, der unentbehrliche Lebensunterhalt, die erforderliche
Pflege in Krankheitsfällen und im Falle des Ablebens ein angemessenes Begräbnis zu ge-
währen. Hierbei ist geeigneten Falles für die Dauer der Inanspruchnahme einer Unterstützung
die Unterbringung in einem Armen= oder Krankenhause und die Anweisung entsprechender
Arbeiten außerhalb oder innerhalb eines solchen Hauses gestattet (A#G. Art. 1). Jeder Aus-
länder ist, so lange ihm der Aufenthalt im Inlande gestattet wird, in den vorbezeichneten Rich-
tungen, ebenso wie in bezug auf den Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes einem
unterstützungswohnsitzberechtigten Deutschen gleich zu behandeln (AG. Art. 20)
Eine besondere gesetzliche Haftung obliegt den Gemeinden zufolge Landesgesetzes vom
12. Juli 1899 in bezug auf nicht bezahlte Apothekerrechnungen. Die Zahlungs-
verbindlichkeit der Gemeinde des Unterstützungswohnsitzes bzw. des Wohnortes tritt hier,
auch ohne Nachweis der Hilfsbedürftigkeit des Unterstützungsempfängers,
ohne weiteres ein, sobald der Apotheker innerhalb sechs Monaten seit der auf Kredit erfolgten
Abgabe der ärztlich ordinierten Arzneimittel der Gemeinde von dem Anspruche Anzeige ge-
macht und innerhalb eines Jahres die Zwangsvollstreckung gegen den Schuldner ohne Erfolg
versucht hat. Die Apotheker dürfen die Abgabe der von einem approbierten Arzte schriftlich
verordneten Arzneimittel an in Hessen wohnhafte Personen auch dann nicht verweigern, wenn
die Bezahlung nicht sogleich erfolgt. — Die Wohnortsgemeinde ist, falls der Arzneiempfänger
in Hessen keinen Unterstützungswohnsitz besitzt, berechtigt, den Ersatz der Hälfte der ihr hier-
nach erwachsenden Ausgaben aus der Kasse des Landarmenverbandes zu verlangen.
1) Bgl. vorbez. Beil. 479 S. 6.
2) Siehe vorbez. Beil. 486 S. 4.
3) Ortspfarrer oder deren Stellvertreter, deren Pfarrbezirk sich über die Grenzen der
politischen Gemeinde ihres Wohnortes hinaus erstreckt, sind hinsichtlich des in der auswärtigen
Gemeinde liegenden Kirchspielteils den dortigen Ortseinwohnern gleichzuachten (AG. Art. 2).
4) Die Bestellung der Armendeputationen bestimmt sich in erster Linie nach dem A. v.
14. VII. 1871 (Art. 2); soweit dieses Gesetz keine entgegenstehenden Bestimmungen enthält,
kommen ergänzend die Vorschriften der St O. und LG. (bes. Art. 131—134, 136—138 StO.,
Art. 129—132, 134—136 LGO.) in Betracht. Zufolge StO. Art. 132, LGO. Art. 130 können
den Armendeputationen nunmehr auf Beschluß der Gemeindevertretung auch Frauen mit
Sitz und Stimme angehören, jedoch nur bis zu einem Viertel der Mitgliederzahl. Diese Frauen
brauchen die allgemeinen Erfordernisse für die Stimmberechtigung und Wählbarkeit in der Ge-
meinde nicht zu besitzen. (Vgl. Best, StO., S. 63, LGO. S. 62).
van Calker, Hessen. 15