4 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. 81.
die in letzter Reihe zur Herrschaft von Regeln führt, denen die Beteiligten
nicht bloß die Bedeutung einer Sitte oder einer Maxime der Klugheit und
Zweckmäßigkeit beimessen, sondern die als Rechtsregeln Anerkennung finden,
ergibt sich aus der Erkenntnis der Notwendigkeit der sozialen Gemeinschaft
selbst und deren Funktion als Mittel der Befriedigung legitimer Interessen der
Angehörigen dieser Gemeinschaft.
Nun läßt die Geschichte der Völker und Staaten deutlich erkennen, daß
sowohl die großen, von weittragenden Folgen begleiteten Vorgänge, wie auch
die konstanten Beziehungen. der Völker auf den verschiedenen Gebieten des
materiellen und geistigen Lebens, in stetig fortschreitender Entwicklung den
Gedanken der Gemeinschaft und Einheit der Völker und Staaten (wenigstens
im Bereich der Herrschaft, gleichartiger Weltanschauung) zum Ausdruck
bringen. Die fortschreitende Kultur schafft immer neue Beziehungen der
Völker und Staaten; die gegenseitige Isolierung wird unmöglich; der nationale
Egoismus weicht den Forderungen der immer mehr in den Vordergrund
tretenden Macht der internationalen Gemeinschaft. Die Tatsache dieser
Gemeinschaft erweist sich mächtiger als das mit der formellen Selbständigkeit
gegebene Gefühl der Unabhängigkeit von fremder Hilfe und Mitwirkung.
So drängt die Macht der Tatsachen und praktischen Lebensverhältnisse zu
einem gegenseitigen Verhalten der Staaten und Völker, welches in ähnlicher
Weise wie in den Anfängen der nationalen Rechtsordnung von der formell
spontanen Beschränkung der Freiheit bestimmt wird. Die Selbstbeschränkung,
welche die Staaten in ihrem Verkehr sich auferlegen, wird von ihnen als
eine durch die Natur der praktischen Verhältnisse und Zustände gegebene
Notwendigkeit anerkannt. Alsbald gelangt bei den Völkern die Überzeugung
zur Geltung, daß die spontane und positive Förderung der internationalen Be-
ziehungen einen mächtigen Faktor in der Realisierung der nationalen Staats-
aufgaben selbst bilde. Während in primitiven Verhältnissen und in älteren
Epochen die eifersüchtige Bedachtnahme auf das eigene Interesse zur Iso-
lierung der Völker führte, eröffnet das moderne öffentliche Leben dem ge-
sunden Egoismus der Völker ein durch territoriale Grenzen nicht eingeengtes
Gebiet der Wirksamkeit, auf welchem die reichen internationalen Bedin-
gungen des Gemeinwohls der Völker in den Dienst des Nationalwohls gestellt
werden können. Die trennenden Gegensätze unter den Völkern mögen von
Zeit zu Zeit noch so sehr in den Vordergrund treten und die Quelle von
Streitfällen bilden, deren Lösung nur mit dem Aufgebot der ganzen Volks-
kraft herbeigeführt werden kann, es mögen wohl auch Epochen eintreten, in
denen die spontane internationale Wirksamkeit der Staaten durch eigenartige
einer auf die Zwecke der Rechtsordnung in unserem heutigen Sinne abzielenden Organisation
der Öffentlichen Gewalt. Das Primäre sind die Gemeinverhältnisse, deren schrittweise
Ordnung durch die Beteiligten cıfolgt; diese erkennen erst in Phasen komplizierter Ent-
wicklung der Gemeinverhältnisse die Notwendigkeit einer zentralen, die Gesamtinteressen re-
präsentiorenden Gewalt. Das Recht herrscht jedoch schon in den voraufgehenden Phasen,
mag es auch noch so unvollkommen sein. — Zu anderen Ergebnissen gelangt allerdings die
Vertragstheorie.