Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

8 2. Begriff des Völkerrechts. 9 
  
Gemeinschaft auferlegt. Diese über den Kreis der souveränen Einzelexistenz 
hinausgreifenden Funktionen entsprechen den aus der internationalen 
Gemeinschaft der Staaten entspringenden Forderungen an die 
Einzelsouveränität; sie bilden aber zugleich eine harmonische, weil in 
der Natur der Dinge liegende Ergänzung der Funktionen des Staats auf dem 
Gebiete der nationalen Staatsaufgabe, die der Einzelstaat eben nur in engstem 
Anschluß an die internationale Gemeinschaft zu lösen vermag !). 
Die praktische Betätigung der Souveränetät des Einzelstaats in seinen 
konstanten und vorübergehenden Beziehungen zu anderen Staaten ist heute 
durchaus von der Idee und der Anerkennung der Notwendigkeit der 
internationalen Gemeinschaft und der Solidarität der Inter- 
essen ihrer Mitglieder beherrscht. Vor dem Hervortreten der Idee der 
internationalen Gemeinschaft verweisen Beziehungen von Staaten unterein- 
ander nur auf deren souveränen Willen. Liegt es nun einerseits nahe, den 
Zweck des Völkerrechts in der Definition zum Ausdruck bringen zu wollen, 
so dürfte doch anderseits nicht übersehen werden, daß der Zweck des Völker- 
rechts in letzter Reihe mit dem des Rechts überhaupt übereinstimmen muß. 
Für die begriffliche Abgrenzung des Völkerrechts von anderen Gebieten des 
Rechts genügt es daher, das differenzierende Moment in die Begriffsbestimmung 
aufzunehmen. Wie innerhalb der nationalen Rechtsordnung, so handelt es 
sich auch im Völkerrecht nur um die Förderung menschlicher Lebenszwecke, 
hier jedoch insofern, als dieser allgemeine Rechtszweck mit Beziehungen der 
Staaten untereinander verknüpft ist. Von den Staaten für deren wechısel- 
seitige Beziehungen anerkannte rechtliche Regeln haben daher notwendig 
immer eine (nähere oder entferntere) Beziehung zu dem allgemeinen Rechts- 
zweck?2). Die völkerrechtlichen Normen charakterisieren sich dadurch, daß 
sie jene Verhältnisse regeln, die durch den Verkehr selbständiger, an der 
internationalen Gemeinschaft beteiligter Staaten (Völker) gegeben sind. Das 
Völkerrecht ist daher der Inbegriff rechtlicher Normen, welche 
die mit der Gemeinschaft der Staaten und Völker verknüpften 
Lebensverhältnisse regeln?). 
  
ı) Vgl. v. Kaltenborn, 8. 250ff., der zuerst die einseitige Betonung der Souveränetät 
als Prinzip des Völkerrechts wirksam bekämpfte. In gleichem Sinne v. Mohl, Staatsrecht, 
Völkerrecht u. s. w. I S. 5S1ff.; Bulmerincq, Völkerr. 178; v. MartensIS. 1ff., 199ff.; 
Rivier S. 3ff.; neuestens Nippolda.a.O. 52ff. 59: Die Gemeinsamkeit, die Solidarität „ist 
in Wirklichkeit das alleinige Prinzip des Völkerrechts“. „Die Souveränctät ist kein besonderes 
völkerrechtliches Prinzip.“ 
2) Wenn v. MartensI S. 18 das Völkerrecht als die Gesamtheit der Rechtsnormen 
definiert, welche den Völkern für die Sphäre ihrer gegenseitigen Beziehungen die äußeren 
Bedingungen zur Erreichung ihrer Lebenszwecke setzen, ao ist doch zu beachten, daß das- 
jenige, was hier als charakteristisch für die Völkerrechtsnormen bezeichnet wird, vom Rechte 
überhaupt gilt. 
3) Von anderen Definitionen des Völkerrechts mögen folgende hier angeführt werden: 
Grotius, De juro belli ac pacis Lib. I Cap I$ XIV: „... estjus gentium ... . quod gen- 
tium omnium aut multarum voluntate vim obligandi accepit.“ Vattel, Le droit des gens etc. 
8 6: „. . . le droit des gens n'est originairement autre chose que le droit de la nature appli- 
que aux nations.* Wheaton, Elements of international law (cd. 1866) Ip. 23: „International
	        
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