Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

$ 92. Erwerb des Staatsgebietes. 307 
  
torium als maßgebend hinzustellen. So sehr dieser Vorgang für jene Zeiten 
erklärlich ist, in denen das Verhältnis des Trägers der obersten Gewalt zum 
Territorium vorwiegend privatrechtlich aufgefaßt wurde, so wenig ist er 
gegenüber der modernen Staatsgewalt und der publizistischen Auffassung der- 
selben zutreffend. Die Arten der Begründung der Gebietshoheit hängen heute 
nur mit publizistischen Anschauungen zusammen !). In völkerrechtlicher Be- 
ziehung kann für die Völkerrechtssubjekte bezüglich des Gebietserwerbs nur 
die Frage in Betracht kommen, wer innerhalb des betreffenden Gebiets 
die Staatsgewalt ausübt. Der völkerrechtliche Gebietserwerb ist der Erwerb 
der Gebietshoheit, d. h. der Staatsgewalt in ihrer Richtung auf die reale 
Grundlage des Staates. 
II. Der Erwerb der Gebietshoheit bezw. Staatsgewalt erfolgt entweder 
durch einen subjektiv und objektiv bestimmt qualifizierten, auf 
Begründung staatlicher Herrschaft an einem solcher Herrschaft 
zugänglichen Gebiet gerichteten Willensakt, oder durch einen 
auf Willensübereinstimmung des bisherigen Trägers der Gebiets- 
hoheit und des Erwerbers beruhenden, die Übertragung der 
Gebietshoheit bewirkenden Akt — Zession?). Im ersteren Falle 
liegt originärer, im letzteren derivativer Erwerb der Gebietshoheit vor. 
Der originäre Erwerb umfaßt in der Gestalt der Okkupation die Fälle der 
ersten Begründung eines Staates in bisher staatenlosem, weil unbewohntem 
Gebiet (unbewohnte Inseln des Weltmeeres), ferner die Begründung einer 
Staatsgewalt und damit eines im Sinne der europäischen Rechtskultur organi- 
sierten Staatswesens auf einem Gebiete, das von Stämmen bewohnt ist, deren 
gesellschaftliches Leben noch nicht zu einer organischen Verbindung von Volk 
und Land unter einer obersten Gewalt vorgeschritten ist. Während Fälle 
der ersteren Art heute nur sehr selten vorkommen dürften, haben die Fälle 
der letzteren Art im Zusammenhange mit der kolonisatorischen Wirksamkeit 
der zivilisierten Mächte in der Gegenwart erhöhte politische und völkerrecht- 
liche Bedeutung gewonnen und sind bezüglich des heute vornehmlich in Be- 
tracht kommenden afrikanischen -Festlandes Gegenstand völkerrechtlicher 
Ordnung (durch die Kongoakte)3) geworden. — Unter den Gesichtspunkt 
originärer Erwerbung wird auch die Debellation im engeren Sinne 
gestellt; es ist dies der Fall der Erwerbung eines Gebietes mittelst der im 
Wege des Krieges erfolgten Vernichtung des gegnerischen Staates (occupatio 
bellica) +). Der Erwerb eines Staatsgebietes auf Grund eines Friedensvertrages 
  
1) Gegenüber herrschenden Ansichten, welche die Analogie des Eigentumserwerbs in 
dieser Lehre in den Vordergrund stellen, ist in nouerer Zeit insbesondere Heimburger a. 
a. 0. S. 25 mit Nachdruck eingetreten. Vgl. auch Adam a.a. 0. S.9 ff. 
2) Vgl. im ganzen neuestens Oppenheim I |]. c. u. insbes. $ 212. 
3) Die Grundsätze der Kongoakte entsprechen der übereinstimmenden Meinung der 
Doktrin und fanden die Billigung des Instituts für intern. Recht. Siehe Annuaire X 176 sq., 
201 sq. 
4) So Heimburger a. a. ©. 127 ff.; v. Holtzendorff, HH IL 255 Anm.il; Salo- 
mon I. c. 25. — S$. dagegen neuestens v. Stengel i. Annalen d. D. Reiches 1889 40; Born- 
hak A f.ö.R 14. 
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