$ 110. Erwerb der Staatsangehörigkeit. 351
gebung kann in der Person der Ehefrau eine doppelte Staatsangehörigkeit
eintreten.
4. Die Naturalisation (Aufnahme). Während in den bisher behan-
delten Fällen die Staatsangehörigkeit mittelbar durch familienrechtliche Ver-
hältnisse begründet wird, vollzieht sich der Erwerb der Staatsangehörigkeit
im Falle der Naturalisation oder Aufnahme unmittelbar durch staatliche
Verleihung. Es wird hier durch einen Akt des zuständigen staatlichen
Organs einem Fremden die Stellung eines Staatsangehörigen zuerkannt. Die
Möglichkeit eines solchen rechtlichen Vorgangs im Bereich des internationalen
Verkehrs ist das Ergebnis der neueren Entwicklung des öffentlichen Rechts
bezw. der Anerkennung der Freiheit des Individuuns, aus seinem bisherigen
Staatsverbande auszuscheiden und in einen fremden Staatsverband einzutreten.
Diese Anerkennung der Auswanderungsfreiheit vollzog sich zunächst in
der Praxis und den neueren Kodifikationen; eine gesetzliche Grundlage wurde
aber erst in neuester Zeit durch die gesetzliche Regelung der Staatsangehörig-
keit geschaffen. Daneben kommt dem konventionellen Recht der Staaten eine
ergänzende Funktion zu !),. Eine Anerkennung eines legitimen internationalen
Verkehrs war natürlich insolange ausgeschlossen, als die patrimoniale Auffassung
des Staates das Treueverhältnis als ein Zwangsverhältnis betrachtete 2), sohin
das Verlassen des Heimatsstaats als sträfliche Untreue gelten mußte.
Der Tatbestand der Auswanderung hat eine eminent internationale Be-
deutung sowohl mit Bezug auf die beteiligten Individuen, wie auch bezüglich
der beteiligten Staaten. Die damit zusammenhängenden Probleme bilden einen
wichtigen Gegenstand des internationalen Verwaltungsrechts und folgemäßig
kollektiven Vorgehens der Staaten, wodurch den auf diesem Gebiete vielfach
kollidierenden Interessen ein erhöhter Schutz gewährleistet und einer gemein-
samen Angelegenheit eine gleichmäßige rechtliche Ordnung zu teil werden
kann. Vorläufig ist die Ordnung des Auswanderungswesens und der damit
zusammenhängenden Fragen dem nationalen Recht?) und der teilweisen Ordnung
wichtigerer Fragen in Einzelverträgen vorbehalten geblieben. Die internationale
Bedeutung der Materie hat neuestens die Aufmerksamkeit des Institus für
internationales Recht in Anspruch genommen, dessen Verhandlungen !) zur
Formulierung einer Reihe von Prinzipien führten. Außerdem empfiehlt das
1) Vgl. insbesondere die zum Zwecke der Vermeidung mehrfacher Staatsangehörig-
keit getroffene Vereinbarung zwischen Deutschland und Österreich (Beschluß des Bundcsrats
vom 14. Juni 1877 bei Cahn a. a. O. Anlage Nr. 66) und Erlaß des österreichischen Mini-
steriums des Innern vom 13. Mai 1877, Verordnungsblatt des Ministeriums des Innern 1877.
Vertrag Österreich-Ungarns mit Serbien vom 16. Juni 1882. 3) Vgl. Stoerk, HH 1. 597.
2) In Deutschland fällt die Regelung des Auswanderungswesens in die Zuständigkeit
des Reichs (Art. 4 Ziff. 1 [Schlußworte] RV). Indessen eret in neuester Zeit gelang es, die
reichsgesctzliche Regelung des Auswanderungswesens durchzuführen, nämlich durch das Ge-
setz vom 1. April 16897 (RGRI S. 468); bis dahin waren die landesgesetzlichen Vorschriften
über Auswanderungswesen maßgebend. Dies galt insbesondere von dem Gewerbebetrieb der
Auswanderungsunternehmer und Auswanderungsagenten, auf welche nach $ 6 der Reichıs-
gewerbeordnung die Bestimmungen dieses Gesetzes keine Anwendung finden.
4) Annuaire XVI p. 242 sq., 262 sq., 276 eq.