352 Sechstes Buch. Rechtliche Stellung der Individuen. 8 110.
Institut die Verwertung einer Reihe von Grundsätzen zur Sicherung eines wirk-
samen Schutzes der Auswanderer und Einwanderer in moralischer, hygienischer
und ökonomischer Beziehung.
Es ist im Auge zu behalten, daß die Frage der rechtlichen Möglichkeit
des Austritts aus einem Staatsverband und des Eintritts in ein fremdes
staatliches Gemeinwesen ihre derzeitige Lösung auf dem Boden der geschicht-
lichen Entwicklung des Staats und jener Ausgestaltung der Beziehungen Ver-
kehr pflegender Staaten gefunden hat, welche zur Anerkennung der Notwendig-
keit autonomer Beschränkung der Staatsgewalt ım Interesse der Individuen
als der Träger des internationalen Verkehrs geführt hat. Die Anerkennung
der Auswanderungsfreiheit seitens der heutigen Kulturstaaten vollzog sich im
Wege autonomer Modifikation des traditionellen Verhältnisses unbedingter
Subjektion der Untertanen gegenüber der Staatsgewalt. Wurde dieses Band im
älteren Recht als ein unlösbares aufgefaßt und infolge dieser Auffassung für die
Zwecke des Staates dauernd in Anspruch genommen, so sollte nnnmehr ınfolge
anderweiter Auffassung der rechtlichen Stellung des Individuums gegenüber
der Staatsgewalt die Freiheit des Individuums auch hier zur Anerkennung
kommen. Die veränderte Stellung, welche das heutige Recht gegenüber der
Frage der Auswanderung einnimmt, bedeutet jedoch nur eine Modifikation
der Konsequenzen des Subjektionsverhältnisses des Individuums gegenüber der
Staatsgewalt. Die Möglichkeit des Austritts aus dem Staatsverband ist durch-
aus abhängig von den staatlichen Normen über Erwerb und Verlust der
Staatsangehörigkeit. Handelt es sich hier um die rechtliche Möglichkeit
des Austritts, so kann dies nur im Zusammenhang mit dem geltenden Recht
in Frage kommen, da nur auf dem Boden einer staatlichen Rechtsordnung
subjektive Rechte möglich sind '., Um deswillen ist die Auffassung des
Expatriationsrechts als eines natürlichen und unentziehbaren Rechts jedes
Menschen ausgeschlossen 2). Hängt also die Frage der Staatswahl prinzipiell
mit dem positiven Recht einer bestimmten Rechtsordnnng zusammen, so ver-
pflichten auch Verbote der Auswanderung und Ausbürgerung. Diese in thesi
mit dem Wesen des Staats und seiner Rechtsordnung gegebene Omnipotenz der
Staatsgewalt kam im Laufe der geschichtlichen Entwicklung in verschiedenem
Maße zur Geltung. Eine veränderte Weltanschauung konnte auf den Inhalt
des Subjektionsverhältnisses des einzelnen einen bedeutsamen Einfluß üben,
aber an dem juristischen Wesen jenes Verhältnisses konnte auch bezüglich der
Frage der Staatswahl eine Änderung nicht eintreten. Es erscheint daher die
rechtliche Möglichkeit der Staatswahl als eine vom Staate gewährte
Freiheit, nicht als eine, einem fingierten Menschheitsrecht entlehnte Freiheit.
1) vgl. die cingehende Untersuchung bei Heilborn, System 90.
2ı Die falsche Anschauung von einem natürlichen und angeborenen Recht jedes Menschen
bezüglich der Expatriation findet sich in dem Gesetze der Vereinigten Staaten von Nord-
amerika vom 27. Juli 1868. Wortlaut bei v. Martitz, Annalen 1875, 1165. Diese prinzipielle
Anschauung führte in der Praxis zu einem durchaus unrichtigen Verhalten der nordameri-
kanischen Union gegenüber den europäischen Staaten, indem man der Aufnahme von Aus-
wanderern in den Verband der Union die rechtliche Bedeutung des Verlusts ihrer bisherigen
Staatsangehörigkeit vindizierte.