618 Kritische Erörterungen zum vierten Buche.
vermindern kann. Giselbert von Mons sei zu unbestimmt gehalten, die Zuverlässig-
keit Ottos von St. Blasien sei teilweise von Narrenberg und Thoman erschüttert worden,
Arnold von Lübeck schreibe ad maiorem Henrici gloriam, müsse also (1) ganz ge-
strichen werden, ebenso Burchard von Ursperg wegen mannigfacher sonstiger Wider=
sprüche. Es ist klar, daß solche Beweisführung jede geschichtliche Uüberlieferung,
auch die sicherste und umfassendste, in sich vernichten muß.
Von ähnlichen Argumenten, besonders dem ex silentio, geht auch Ferd.
Güterbock, Der Prozeß Heinrichs des Löwen (Berlin 1909), aus, um die Zu-
sammenkunft überhaupt in Abrede zu stellen. Wenn mon bedenkt, wie überaus
spärlich wir gerade über die Vorgänge vor der Schlacht bei Legnano unterrichtet sind,
so werden wir im Gegenteil zugeben müssen, daß kein Ereignis jener Zeit besser und
mannigfacher bezeugt ist, als gerade diese Zusammenkunft. üÜbrigens geht Güter-
bock mit den beliebten Konstruktionen auf den Pfeiler „vielleicht“ und „wahrschein-
lich" vor, mit denen man bekanntlich jede beliebige Behauptung stützen kann.
Aus den obigen Gründen entschieden sich auch A. Cohn (Göttinger Gel. Anz.,
1863, I, 461 ff.) und S. Riezler (Gesch. Bayerns, I. 18781, S. 710 ff.) für die
Realität der Zusammenkunft; und ebenso Giesebrecht (Gesch. d. deutsch.
Kaiserz., V, I, 777 ff.): Cohn sagt mit Recht: „Weil die Wirklichkeit oft nicht poetisch er-
scheint, ist das Poetische deshalb nicht stets unwirklich, und daraus, daß manche Einzel-
heiten eines bedeutenden Vorganges sich nicht bestimmt ermitteln lassen, folgt
noch lange nicht, daß derselbe in das Gebiet der Erfindung gehöre.“ Und Giesebrecht:
„Es ist kaum erklärlich, wie ohne irgendeinen äußeren Anlaß die so verschiedenartigen
Nachrichten in Quellen, die sonst ohne Verbindung miteinander stehen, über eine
Zusammenkunft haben entstehen können. Uberdies führt der jähe Bruch des bis
dahin so nahen freundschaftlichen und vetterlichen Verhältnisses zwischen dem Kaiser
und dem Herzog fast mit Notwendigkeit zu der Annahme, daß zwischen ihnen persön-
# Aug' in Auge ein offenes, kaum mehr auszugleichendes Zerwürfnis eingetreten
ei.“ —
Was die Zeit der Zusammenkunft anbetrifft, so habe ich solche früher aus nicht
zu verachtenden äußeren Gründen in den Spätsommer 1175 gesetzt. Allein die in-
zwischen veröffentlichten Paderborner Annalen — die einzige Quelle, die ein be-
stimmtes Jahr anführt, — nennen 1176. llbrigens befand sich Heinrich tatsächlich
im Februar und Anfang März 1176 in Süddeutschland, von wo aus er leicht den
Abstecher in die Alpen zu machen vermochte.
Der Ort der Zusammenkunft wird durch zwei Reihen von Quellen verschieden
bezeichnet. Der älteste Gewährsmann, der sehr glaubwürdige Paderborner Annalist,
nennt die Gegend des Comersees, und ihm pflichtet der aAbt von Ursperg bei. Der
zuverlässige Otto von St. Blasien bestimmt den Ort näher als Chiavenna, damals
an der Nordspitze des Comersees gelegen. Anderseits spricht die Chronik von Lauter-
berg von Partenkirchen in Oberbayern und findet Bestätigung durch Arnold von Lü-
beck, der den Kaiser damals auf deutsches Gebiet kommen läßt. Allein beide letzteren
Quellen zeigen vollständige Unkenntnis der damaligen Vorgänge; zumal läßt der
Lauterberger Chronist den Kaiser alle sächsischen Fürsten, Arnold gar alle deutschen
Fürsten zu einem Hoftage in Bayern bescheiden, wovon man sonst auch nicht die
mindeste Spur findet, und was mehr als unwahrscheinlich ist. Unzweifelhaft, daß
die allgemeine spätere Überlieferung sich für Chiavenna entschieden hat (s. die
1. Aufl. meines „Heinrich d. Löwe“, II, 444). Unter diesen Umständen muß man
sich durchaus für Chiavenna aussprechen, wie es auch — im Gezensat zu Prutz
und seinen Nachfolgern — A. Cohn (Gött. Gel. Anz., 1863, I. 471), Heigel
(a. a. O., S. 26), W. Giesebrecht, Haller (a. a. O., S. 323) und Doberl (Ent-
wicklungsgeschichte Bayerns, I, 192) tut. Übrigens lag Chiavenna damals noch
in partibus Teutonicorum, da es zum Herzogtum Schwaben gerechnet wurde
(Simonsfeld, Jahrb. d. deutsch. Reiches unter Friedrich I. [Leipzig 1907|,
S. 175, 509). Die Verhältnisse in Oberitalien gestatteten dem Kaiser keinenfalls,
dies Land zu verlassen und sich über die Alpen fortzubegeben. Nur mit Mühe,
und indem er fortwährend von einer lombardischen Stadt zur anderen reiste, hielt
er dort noch die Reste einer kaiserlichen Partei zusammen (Ann. Magdeburg., N. C.
Ss. XVI, 193). Es ist ganz ausgeschlossen, daß er sich unter diesen Umständen auf
umfängliche Fürstenversammlungen — wie gerade die Chronik von Lauterberg und