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sehen auch immer nur durch die eigene Brille. Carlyle schätze
ich deswegen so hoch, weil er es versteht, sich in die Seele
anderer hineinzuleben.
Ich empfinde es als eine besondere Erschwerung, daß
sich meine persönlichen Gegner von Jahr zu Jahr mehren.
Mein Beruf erfordert, daß ich einer Menge von Menschen
auf die Hühneraugen treten muß, und so etwas vergißt
niemand. Neue Freunde zu gewinnen, dazu bin ich zu alt,
dazu habe ich auch keine Zeit und die alten verschwinden
von der Bildfläche, sobald sie glauben, ich werde ihnen keine
Vorspanndienste mehr leisten. So werde ich denn schließlich
nur von persönlichen Feinden umgeben sein. Hoffentlich ge-
hören Sie noch nicht zu diesen “
Berlin, 9. Mai 1875.
Unterredung mit dem englischen Botschafter in
Berlin, Lord Odo Russel, über die angeblich krie-
gerischen Pläne Deutschlands gegenüber Frank-
reich.“
Als Folge der französischen Befürchtung einer deutschen
Bekriegung hatte Graf Schuwaloff auch die englische Regierung
bestimmt, gemeinsam mit Rußland in Berlin zum Frieden
zu raten. Als Russel den Entschluß des englischen Kabinetts
Bismarck mitteilte, erklärte dieser sein Erstaunen darüber,
daß auch England eine Störung des Friedens durch Deutsch-
land befürchtete. „Zwischen Deutschland und Frankreich
gibt es augenblicklich keinen Grund zu einem Streite; die
beiderseitigen Beziehungen lassen nichts zu wünschen übrig,
und es besteht kein Grund zur Beunruhigung.“
) Dernières Années de IAmbassade de Mr. de Gontaut-
Biron, Paris 1907, S. 137.
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