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der Arbeiter mit der fortschreitenden Kultur von selbst ver-
bessert. Ein Blick auf die Lebensführung der städtischen und
der ländlichen Arbeiter, wie sie jetzt ist, und wie sie vor 50
Jahren war, ergibt das zur Evidenz. Die Menschenfreundlich-
keit kann sich vollkommen dabei beruhigen. Ich will den
Arbeitern nicht das Recht bestreiten, ihre Lage auf dem Wege
der Koalition zu verbessern, aber jede Einmischung des Staats
zu ihren Gunsten muß unterbleiben, ebenso wie zu Gunsten
der Arbeitgeber. Der Staat hat den Lohnkämpfen gegenüber
keine andere Aufgabe, als die öffentliche Ordnung aufrecht
zu erhalten; wenn er für die Ansprüche der Arbeiter ein-
träte, so überschritte er dadurch seine Kompetenz und beginge
ein Unrecht gegen eine Menge anderer Leute, die gerade so
viel Berücksichtigung verdienen wie die Handarbeiter.
Ich bin arbeiterfreundlich im Sinne der durch mich ins
Leben gerufenen kaiserlichen Botschaft vom 17. November
1881, der Basis der deutschen Sozialreform. Ich will die
Arbeiter gegen die Gefahren der Krankheit, des Unfalls, des
Alters und der Invalidität gesichert wissen, glaube aber nicht,
daß durch Eingreifen in die Autonomie der Arbeitgeber oder
Arbeitnehmer Nutzen gestiftet werden kann. Dagegen bin
jch der Ansicht, daß es Pflicht des Staates ist, Schutz der
Arbeiter vor jeder sozialistischen Territion zu gewähren und
zu verhüten, daß Beschränkung der persönlichen Willensfreiheit
zur Durchführung des Streiks und anderer polizeilich oder ge-
setzlich anfechtbarer Maßregeln der Streikführung geduldet
werde.““)
*) Gespräche Bismarcks nach Informationen der „Dresdner
Nachrichten“ vom 4. Februar 1897 in meinem Werke: „Fürst
marck. Neue Tischgespräche und Interviews“, Bd. II, S. 425 f.