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meinte. Was aus Belgien geworden wäre, falls Frankreich
seine Absichten verwirklicht hätte, war für die deutsche Politik
eine Frage zweiten Ranges; ein französisch-deutscher Krieg
wäre bei dieser Entwicklung schwerlich ausgeblieben, und wenn
er denselben Verlauf genommen hätte wie 1870/71, so
würde auch das Königreich Belgien wieder hergestellt wor-
den sein.
Nach dem Kriege hat niemand und am wenigstens ich selbst
geglaubt, der Friede werde auch nur fünf Jahre zu erhalten
sein und Deutschland werde nicht über kurz oder lang seine
großen Erfolge in einem zweiten Kriege verteidigen müssen.
Die erste Trübung der deutsch-russischen Beziehungen ist
in erster Linie der Eifersucht zuzuschreiben, die Fürst Gort-
schakowm gegen mich hegte."') Freilich spielten dabei auch noch
andere Faktoren mit.
Der Hauptgrund für den Abschluß des deutsch-österreichi-
schen Bündnisses war der, daß Rußland Deutschland gegen-
über damals eine Sprache führte, welche dieses sich nicht ge-
fallen lassen konnte und deshalb Rückversicherung bei Oester-
reich nahm. Die russische Kriegspolitik hatte gegen die Türkei
nicht die erwarteten Erfolge, zum Teile aus militärischen,
zum Teile aus politischen Gründen. Rußland war nicht ent-
schlossen und militärisch stark genug gewesen, den Vorstoß
auf Konstantinopel rechtzeitig zu unternehmen. In der Folge
war es dann zu spät. Es sind starke diplomatische und stra-
tegische Fehler gemacht worden, und in Petersburg hat man
das Bedürfnis empfunden, die Verantwortlichkeit dafür von
*) Biemarck sagte einmal zu einem Russen: „Ihr Minister
Gortschakow hielt mich dans Sa grande vanité immer für seinen
Schüler, und so lange ich unter seinem Niveau stand, wollte er
mir wohl. Aber als ich mich erhoben hatte, konnte er mir das
nachher nie verzeihen, haßte er mich und tat alles, was in seiner
Macht stand, um mir hinderlich zu sein, sogar da, wo meine
Handlungen für Rußland zu offenbarem Nutzen waren, wie auf
dem Berliner Kongresse.“