Auslegung.
geringste eigenmächtige Abweichung,
bei Vermeidung Unserer höchsten Un-
gnade und schwerer Ahndung, sich zu
erlauben .. .“ Wenn auch anerkannt
werden muß, daß gerade in neuerer Zeit
die Gesetze klarer und technisch vollen-
deter werden, so darf darum die A nicht
ausgeschaltet werden. Sie bleibt vielmehr
der Vermittler zwischen Recht und Volk.
Die A stellt den Sinn, Umfang und In-
halt einer Rechtsnorm fest. Sie hat in
geistig freier Weise alle wissenschaft-
lichen Mittel zu verwenden, um den
Rechtssatz mit dem ihm angemessenen In-
halt zu erfüllen. Die A der Gesetze darf
sich nicht so weit von dem Boden des
Gesetzes entfernen, daß vom Gesetze
selbst nichts mehr übrig bleibt. Grund-
regel ist: das Gesetz will nicht etwas
Unvernünftiges, Inhaltloses, Widersin-
niges enthalten. Als Staatsbürger, auch
als Jurist ist man dem Gesetze diesen Re-
spekt schuldig, und es erscheint wenig
erfreulich, ein Gesetz so abkanzeln zu
sehen wie einen Schulbuben, der sein
Pensum nicht pünktlich aufgearbeitet hat.
Der Grund für das Postulat einer
a priori anzunehmenden Vernünftigkeit
unserer Gesetze liegt in folgendem. Die
sämtlichen Faktoren, welche im Staate an
der Gesetzgebung mitwirken, wählen un-
ter den bestehenden Möglichkeiten der
gesetzlichen Normierung einer Materie
diejenige aus, die ihnen zweckmäßig,
durchführbar, angemessen erscheint. Auf
diese Normierung einigen sie sich: das
Ergebnis dieser Einigung ist der Ge-
setzestext. An diesen Text sind alle Bür-
ger, einschließlich der Juristen, gebunden.
In Fällen, die dem Texte nach verschie-
dene Deutungen zulassen, gibt die A die
Möglichkeit, das Rechte zu finden. In
solchen Fällen aber, in denen der Rechts-
satz klar und deutlich nur einen Sinn er-
gibt, darf man nicht, gleichviel unter wel-
chem Vorwande, über das Gesetz hinweg-
schreiten. Nicht, was dieser oder jener
Gelehrte im Gesetze verwirklicht zu sehen
wünscht, ist bei uns Rechtens ; sonst wäre
im Grunde genommen der sehr umständ-
liche Hergang des Gesetzgebungsaktes
eine Überflüssigkeit.
Es ist nicht leicht, dem Gesetze gerecht
zu werden. Gern sieht man, was er-
wünscht, erfüllt. Ein Forscher, der jahre-
lang in dem Ideenkreise einer bestimmten
Lehre das Recht dargestellt und behan-
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delt hat, wird in einer dann erfolgenden
gesetzlichen Regelung nur zu gern die
Bestätigung gerade seiner Lehre finden.
Das entschuldigt wohl, wirkt aber auf
einen kultivierten Geschmack verstim-
mend, hat es doch recht viel Ähnlichkeit
mit gewerblichen Konkurrenzkämpfen. —
Darum ist und bleibt oberster Satz: man
gehe vom Gesetze aus und kehre zum
Gesetze zurück. — Unter den möglichen
Deutungen die angemessene zu finden,
erfordert Takt und Erfahrung, Besonnen-
heit des Urteils und Gefühl für das Rechte.
Immer aber muß das positive Recht Grund-
lage sein; nur so bleibt man vor Phan-
tasterei über die lex ferenda, die manchem
schon als lex lata erscheint, bewahrt.
I. Entsteht eine Auslegungsregel durch
eine Rechtsquelle, so ist sie bindend und
hat rückwirkende Kraft; denn die authen-
tische Interpretation erfüllt den bereits
vordem vorhandenen Rechtssatz mit dem
Inhalte, den er nach dem Willen der ge-
setzgebenden Faktoren von Anfang an ha-
ben sollte. Ob die so gegebene A dem
entspricht, was man für richtig hält, ist
gleichgültig: die authentische Interpreta-
tion ist zwingend, ohne Rücksicht auf die
sie veranlassenden Gründe.
Die authentische Interpretation kann
durch Gewohnheit, Staatsvertrag, Gesetz
erfolgen. Hierbei ist hervorzuheben:
1. Usualinterpretation ist die im Wege
des Gewohnheitsrechtes erfolgende Aus-
legung. Sie hat in der Regel den Wert
authentischer Festlegung dessen, was be-
reits bisher übliche Auslegung oder herr-
schende Ansicht in einer Streitfrage war,
vgl Paulus in D 1, 3, 37. — Ein Beispiel:
Im Anschlusse an 2.Mos 22 16 hatte c.
1 X de adulteriis 5, 16 bestimmt: si se-
duxerit quis virginem nondum desponsa-
tam dormieritque cum ea, dotabit eam et
habebit uxorem. Das drückte man auch
in dem Rechtssprichworte aus: duc et
dota, d. h. der Verführer muß die Ver-
führte heiraten und ihr überdies ein Hei-
ratsgut, dos, zuwenden. — Die gemein-
rechtliche Praxis interpretierte aber: duc
aut dota, d. h. der Verführer habe die
Verführte zu heiraten, oder er müsse,
wenn er sie nicht heirate, ihr eine dos zu-
wenden. Diese Auslegung ist gewohn-
heitsrechtlich bestätigt worden; vgl RG
49 207.
2. Legalinterpretation ist authentische
Erklärung einer bestehenden Rechtsnorm