Full text: Rechtslexikon. 1. Band: A-K (1)

36 Ägrarwesen. 
unmittelbar auf die dinglichen Rechtsver- 
hältnisse ein. 
6. Im 19. Jahrhundert (1820—1870) stie- 
gen anfangs die Getreide- und Viehpreise; 
daher war die Intensität des Anbaues 
größer, und die Produktion nahm zu. Bei 
Beginn des letzten Jahrhundertviertels 
trat ein größeres Angebot von Agrarpro- 
duktion aus Ländern niedriger Kultur ein, 
daher sanken die Preise. 
Diese Veränderung des bisherigen Zu- 
standes hatte zur Folge: ein Anpassen der 
bisherigen Produktionen durch Verände- 
rung der Kultur oder durch größere Ex- 
tensität der Wirtschaft; — oder es trat, 
wenn eine solche Anpassung infolge der 
natürlichen und wirtschaftlichen Verhält- 
nisse unmöglich war, eine Agrarkrisis 
ein, d. h. eine Gefährdung einer erheb- 
lichen Zahl von Landwirten durch zu 
geringen Reinertrag. 
Als Entwickelungstendenzen in den 
Verhältnissen des ländlichen Eigentumes 
zeigen sich in Südwestdeutschland: De- 
zentralisation des Eigentumes und der Be- 
triebe, insbesondere als Folge der in der 
napoleonischen Zivilgesetzgebung vorge- 
schriebenen Realteilung im Erbgange; — 
in Mitteldeutschland: Ständigkeit in den 
bäuerlichen Besitzverhältnissen; — in 
Ostdeutschland: Bildung von Großbesit- 
zen unter Aufsaugung der spannfähigen 
Bauernstellen, namentlich infolge des Vor- 
handenseins von Fideikommissen, Ar- 
beiternot und Landhunger. 
7. In der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts 
nahm die Verschuldung von Grund und 
Boden zu, und zwar nach der Sicherstel- 
lung: als Personalkredit und Realkredit; 
— nach dem Schuldgrunde: als Besitzkredit 
(entweder Restkaufschilling oder Erbtei- 
lungsgeld), Meliorationskredit, Kredit für 
andere Zwecke. — Der Besitzkredit stellt 
etwa2/abis®/a der Gesamtverschuldung dar. 
Für die wirtschaftliche Bedeutung der 
Verschuldung kommt neben dem Rein- 
ertrage der Ertragswert in Frage, d. i. 
der aus dem Reinertrage durch dessen 
Kapitalisierung berechnete Wert; ferner 
der Verkehrswert, d. i. der auf dem 
Markte durch Angebot und Nachfrage ge- 
bildete Wert des Bodens. 
Der Verkehrswert sucht den Ertrags- 
wert zu erreichen oder zu übersteigen, 
insbesondere auf kleinen Gütern; je höher 
der Verkehrswert ist, desto höher wird 
die Verschuldung. 
  
Bei Verschuldung oder hohem Ver- 
kehrswerte ist ein Anpassen an die 
Schwankungen des Marktes nicht mög- 
lich, so daß bei sinkenden Preisen eine 
Agrarkrisis zu erwarten ist. 
8. Die Maßnahmen zur wirtschaftlichen 
Förderung und erfolgreichen Gestaltung 
des Agrarbetriebes können eine Gewähr- 
leistung oder Steigerung des Reinertrages 
bezwecken, indem: 
a. schützende Maßregeln gegen Schädi- 
gung durch die Elemente (z. B. Seuchen, 
Hagel, Wassernot) oder gegen schäd- 
liche Einwirkungen in der Preisgestal- 
tung (z. B. durch Schutzzölle) ergriffen 
werden, 
b. fördernde Maßregeln, z. B. Verbesse- 
rungen des Betriebes durch Versuchs- 
stationen, Lehrer, Vereine oder durch ge- 
meinsame Mitarbeit, z. B. Genossenschaf- 
ten, durchgeführt werden. 
Es kann auch eine Steigerung des Roh- 
ertrages der Wirtschaft erstrebt werden, 
und zwar derart, daß das Interesse des 
einzelnen überboten wird. 
Gleichwohl muß jede Politik im A daran 
festhalten, daß das Eigentum an Grund 
und Boden individualistisch ist, denn ge- 
schichtlich ist die Verschiedenheit der 
agrarischen Zustände im einzelnen be- 
gründet; die Verwirklichung einer gesun- 
den Agrarpolitik ist nur durch verschie- 
denartige Verhältnisse in Betrieb und 
Eigentum zu ermöglichen. 
Die Arten der Eigentumspolitik können 
daher konservativ sein, d. h. die Erhaltung 
des bestehenden, als gesund anerkannten 
Zustandes bezwecken; sie können auch 
reformatorisch werden, indem sie eine 
Veränderung der bestehenden, als unge- 
sund erkannten Zustände herbeizuführen 
suchen. 
Die konservative Eigentumspolitik be- 
strebt Maßregeln zur Verhinderung einer 
Vergrößerung der Konzentration oder zur 
Verhütung der Dezentralisation des 
Eigentums; die Bestrebung, das Eigentum 
in wenigen Händen zu konzentrieren, 
z. B. Beförderung der Fideikommisse, ist 
nicht besonders stark entwickelt. Da- 
gegen besteht eine Bewegung nach größe- 
rer Dezentralisation. Maßregeln hierfür 
können den Rechtsverkehr unter Leben- 
den oder das Erbrecht betreffen. 
Insbesondere gibt es hierfür folgende 
Wege: 
a. Schließung der Güter, d. h. gewisse
	        
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