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wie das Bertillonsche Identifizierungsver-
fahren die Wiedererkennung von Perso-
nen bezweckt. Es gründet sich darauf,
daß an der menschlichen Hand die an der
Innenseite der Fingerspitzen befindlichen
sog Fingerbeeren von einem System zahl-
reicher Linien durchzogen sind und daß
diese Linien, die sog Papillarlinien, Mu-
ster bilden, die bei jedem Menschen an
jedem Finger verschieden sind, die sich
andererseits bei demselben Menschen nie-
mals verändern. Die Muster an den Fin-
gern des neugeborenen Kindes verändern
zwar während des Wachstums ihre Di-
mensionen, aber das Muster bleibt das
gleiche. Die Haut wächst sogar mit dem-
selben Muster nach, wenn dieses durch
irgendwelche Verletzungen beseitigt
wurde. Selbst bei der Leiche bleibt das
Muster so lange erkennbar, bis die Haut
zersetzt ist. Der Gedanke, diese Muster
bzw ihre Abdrücke zu Identifizierungs-
zwecken zu verwenden, istkeineswegs neu.
In vielen orientalischen Ländern, beispiels-
weise China, Indien, der Türkei, wird häu-
fig an Stelle der Unterschrift ein Finger-
abdruck gesetzt; William Herschel veran-
laßte mit den besten Erfolgen die indische
Verwaltung, das Fingerabdrucksverfahren
im Verkehr mit den Eingeborenen zu ver-
wenden. In Europa hatte bereits im Jahre
1823 der Physiologe Johannes Evangelista
Purkinje, damals Professor zu Breslau, in
einer lateinischen Dissertation auf die ver-
schiedenartigen Muster der Papillarlinien
hingewiesen und dieselben in bestimmte
Gruppen eingeteilt, ohne jedoch hiermit
sonderliche Beachtung zu finden. Erst in
den achtziger und neunziger Jahren be-
gründeten die Engländer Galton und
Henry das moderne Fingerabdrucksver-
fahren, welches analog der Bertillonage
eine unbedingt zuverlässige Identifizie-
rung ermöglicht. Das Verfahren hat in
allen Kulturstaaten Verbreitung gefunden
und hat in einzelnen Staaten die Bertillo-
nage völlig verdrängt, während in den
meisten Ländern, so auch in Deutschland,
beide Verfahren nebeneinander bestehen.
Die Herstellung der Fingerabdrücke ge-
schieht in der Weise, daß sämtliche zehn
Finger des betr Individuums nacheinander
auf eine mit Druckerschwärze gleichmä-
Big gefärbte Platte und dann auf ein For-
mular mit Rubriken für die einzelnen Fin-
ger gebracht werden, derart, daß das auf
den Fingerbeeren sichtbare Muster abge-
Fingerabdrucksverfahren.
drückt wird. Um einen vollständigen Ab-
druck der Muster zu erzielen, geschieht
das Färben und Abdrücken in einer be-
stimmten rollenden Bewegung. Zur
Kontrolle werden dann noch je vier Finger
beider Hände zusammen auf das Formular
gedrückt, außerdem enthält jedes Formu-
lar ein Nationale der betr Person. Die
Vorzüge dieses Verfahrens gegenüber den
Bertillonschen Messungen werden haupt-
sächlich darin gefunden, daß hier keine
kostspieligen Präzisionsinstrumente nötig
sind, daß jeder Beamte das Verfahren in
kürzester Zeit erlernt, daß es sehr schnell
vonstatten geht, und daß alle Irrtümer,
die bei nicht ganz genauen Messungen un-
vermeidlich sind, hier unmöglich sind.
Schwierig ist dagegen die Klassifikation
und Registrierung der Fingerabdruckskar-
ten. Unterscheidende Merkmale findet
zwar jeder bald heraus, indessen ist es un-
möglich, jedesmal sämtliche Karten einer
größeren Registratur durchzusehen (vgl
Bertillonsches Verfahren). Die Methoden
der Klassifizierung sind außerordentlich
zahlreich, und es tauchen noch fortwäh-
rend neue auf. Als die bekanntesten seien
hier nur die von Herschel, Galton, Henry
(England), Vucetich (Südamerika), Ro-
scher (Hamburg), Daae (Kristiana) und
Bertillon erwähnt.
Hier soll nur das Henrysche System mit
den von Windt und Koditek vorgenom-
menen Abänderungen, wie es in Deutsch-
land bis vor kurzer Zeit herrschend war,
und das System Roscher kurz beschrieben
werden. Henry-Windt-Kodicek teilen
sämtliche Fingerabdrücke in zwei Haupt-
gruppen, die L- und W-Muster. Als
L-(Lasso-)Muster werden zunächst die sog
„Schlingenmuster‘ bezeichnet, welche aus
einer Anzahl konzentrisch gelagerter
Schlingen bestehen, sodann die „Bogen-
muster“, bei welchen die Papillarlinien
von einer Fingerseite zur anderen laufen,
ohne eine Wendung nach der Einlaufseite
zu machen. W-(Wirbel-)Muster heißen die-
jenigen, bei welchen die Papillarlinien in
Form einer Schnecke bezw eines im Was-
ser entstehenden Wirbels angeordnet
sind. Oft ist es zweifelhaft, ob ein Muster
in die Gruppe der L- oder W-Muster ge-
hört. Entscheidend für die Klassifizierung
ist die Anzahl der sog Deltas. Die Pa-
pillarlinien, welche die Innenseite des
Fingers bedecken, laufen nämlich bis zum
Beginn des Musters parallel. Von da an