Full text: Rechtslexikon. 1. Band: A-K (1)

Gewerkvereine — Gewohnheitsrecht. 
werkschaftsbewegung 1900, 2. Aufl unter dem Titel: Die 
Berufsvereine, 08. Falck. 
Gewinnanteilschein s. Aktiengesell- 
schaft, Reichsbank, Wertpapiere. 
Gewinn- und Verlustrechnung s. 
Buchführung, Bilanz. 
Gewohnheitsrecht ist eine Ordnung 
rechtlichen Inhalts, die bewußt oder un- 
bewußt auf Grund einer Volksüberzeu- 
gung dauernd im Verkehr als Recht ge- 
übt wird. In alten Zeiten, denen Schrift 
und Satzung nicht bekannt war, ist das 
Recht entstanden, ohne daß ein Antrag, 
ein Beschluß, eine Verkündung notwen- 
dig war. Auch moderne Gesetze vermö- 
gen es nicht, für alle denkbaren Fälle Vor- 
sorge zu treffen, die Lücken können da- 
her gewohnheitlich ausgefüllt werden. In 
welchem Umfange und mit welcher Wir- 
kung dies geschieht, kann auch der Ge- 
setzgeber nicht immer mit Aussicht auf 
Erfolg vorschreiben (dagegen ist im Straf- 
rechte ein G nicht anzunehmen; vgl S 2 
Abs ). 
I. Das G ist schwieriger festzustellen als 
ein Akt der gesetzgebenden Gewalt; denn 
es wird in einem Augenblicke, der noch 
mitten im Flusse der Entwickelung zu lie- 
gen scheint, als vorhanden angesehen, 
ohne daß er sich, wie etwa ein Gesetz, 
in allen Phasen seiner Entstehungsge- 
schichte kontrollieren ließe; vgl auch den 
Art Gesetz. — Eine solche Kontrolle ist 
aber geboten, damit ein Satz, der vielleicht 
nur Geschäftsgebrauch oder Sitte ist, nicht 
etwa als Rechtssatz angesehen und be- 
folgt werde. Die Kontrolle des gewohn- 
heitlich entstandenen Rechtssatzes voll- 
zieht sich dadurch, daß nachgeprüft wird, 
ob der Satz gewissen Erfordernissen ge- 
nügt. Um jedoch zur Aufstellung solcher 
Erfordernisse zu gelangen, bedarf es einer 
Feststellung des Kausalmomentes, d. h. 
der Begründungsfrage: warum wird ein 
Satz zu einem Rechtssatze, ohne daß er 
von den Faktoren der Gesetzgebung an- 
genommen worden ist? 
Man hat das Kausalmoment lediglich in der Tatsache 
der Übung eines Satzes oder in der Überzeugung erblicken 
wollen. 
1. Die materlalistische Theorie sieht darin, daß ein 
Batz als ein Rechtssatz geübt werde, die bindende Kraft 
des Gewohnbheltsrechtes; so Dernburg Pandekten 1 57. 
2. Die Überzeugungstheorie oder spiritualistische Theorie 
begründet die Geltung des Gewohnheitsrechtes damit, daß 
es auf der Überzeugung des Volkes im ganzen oder einzelner 
Kreise beruhe. Jedoch gehen die Lehrmeinungen darüber 
auseinander, welchen Inhalt die Überzeugung haben 
müsse. Die einen nehmen an, es sei die Überzeugung 
von der Gerechtigkeit des Satzes ausreichend, die andern 
verlangen eine Überzeugung von der Rechtmäßigkeit. 
a. Nach der innerhalb der Überzeugungstheorie herr- 
schenden Auffassung ist eine Überzeugung der Gesamtheit 
erforderlich; so Windscheid 1 77. Einen ähnlichen 
  
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Standpunkt nehmen ein von Savigny System 1 37; 
Puchta GewR 383 5; Glerke DPrivR 1 170; Laban 
StaatsB 1 488: Endemann BürgR 1 %4; Kohler 
BürgR 1 106; Brie GewR 1 12. 
b. Einige Schriftsteller lehnen es ab, das Erfordernis 
allgemeiner Überzeugung aufzustellen, wollen vielmehr 
auch der Überzeugung kleiner und kleinster Kreise rechte- 
bildende Kraft einräumen; so namentlich Cosack 
HandelsR (4. Aufl) 20; dagegen bedeutend reservierter der- 
selbe BürgR 1 39. 
Eine ausreichende Begründung gibt je- 
doch nur die Gestattungstheorie, welche 
das G als Rechtsquelle anerkennt, aber 
eben nur in dem Maße, als ihm der Ge- 
setzgeber zukommen läßt. Nur insoweit 
der Gesetzgeber dem G Raum gibt, kann 
eine Bildung des G erfolgen. Nur wenn 
die Gesetzgebung es duldet, kann ein G 
sich gegen das Gesetz bilden. Stets aber 
liegt es in der Macht der gesetzgebenden 
Gewalt, dem G trotz vorhandener Rechts- 
überzeugung, trotz bewußter Übung seine 
Anerkennung zu versagen. 
Die materlalistische Theorie ist in der Begründung 
verfehlt; sie unterscheidet nicht Recht und Sitte: beide 
werden geübt und müßten daher gleichwertig sein. — Die 
Überzeugungstheorie gründet sich auf ein Phantom: wäre 
sie richtig, dann müßte es eine identische Überzeugung 
des gesamten Volkes geben. Eine solche aber ist bei einer 
so heterogenen Vielheit von Personen angeschlossen. Da- 
neben sei erwähnt, daß jeder Vertreter dieser Lehre an 
eine anders geartete Überzeugung denkt, also nicht einmal 
innerhalb dieser Theorie eine Übereinstimmung zu erzielen 
ist. — Nur solange eine Gesetzgebung fehlte oder mangel- 
haft organisiert war, konnte tatsächliche Übung oder Über- 
zeugung als Mittel angesehen werden, das G zu erklären. 
Ein wohlgeordnetes Staatswesen verfügt über Machtmittel, 
um das als Recht zur Anerkennung zu bringen, was nach 
dem Wilien der gesetzgebenden Gewalt Rechtens sein soll. 
Deshalb kann das G nur im Gesetz seine Begründung und 
seine Kraft finden. 
Der hier vertretene Standpunkt istschon 
in den römischen Quellen als richtig an- 
erkannt; er ist der einzige, der sich aus 
dem geltenden Verfassungsrechte recht- 
fertigen und erklären läßt. 
Julian in D 1, 3, 82, 1; Bruns bei v. Holtzendorff 
Enzyklopädie (5. Aufl) 1 437; Stahl Philosophie des R 
8 (1) 241: Binding Handb8trafR 1 209; v. Seydel 
BayrStaatsR 2 310. 
II. Erfordernisse des G nennt man die- 
jenigen Merkmale, aus denen man er- 
kennt, daß ein Satz ein Gewohnheits- 
rechtssatz ist. 
1. Der Satz muß als ein Satz rechtlichen 
Inhaltes geübt werden. Die Übung muß 
mit der opinio iuris sive necessitatis ge- 
schehen; diese Rechtsüberzeugung schei- 
det das G von Sitte, Geschäftsgebrauch, 
subjektivem Rechte. Die Usance ist ein 
naturale negotii, also ein Bestandteil des 
Rechtsgeschäftes, und kann daher von den 
Parteien ausgeschlossen werden. 
2. Der Satz muß lange Zeit hindurch ge- 
übt worden sein; die Dauer der Übung 
bestimmt sich nach richterlichem Ermes- 
sen. Das kanonische Recht hatte jedoch 
den Ablauf der Ersitzungszeit verlangt: 
die consuetudo müsse canonice prae-
	        
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