Full text: Rechtslexikon. 1. Band: A-K (1)

716 
Handelsbilanz zu erzielen. In gleicher Ab- 
sicht wurden Handelsverträge geschlos- 
sen, überseeische Kolonien erworben und 
die Schiffahrtsverbindung mit ihnen sowie 
die Küstenschiffahrt allein dem Heimat- 
lande erlaubt. 
Nachdem man den mit dieser Hp ver- 
folgten Zielen teilweise nähergekommen 
war, begannen die Staaten in der zweiten 
Hälfte des 18. Jahrh unter dem Einfluß 
der physiokratischen Lehren die sie von- 
einander abschließenden Schranken etwas 
zu öffnen. Nach der Kontinentalsperre 
forderten die emporgekommenen Gewer- 
bezweige der europäischen Staaten jedoch 
von neuem Schutz besonders gegen die 
englische Konkurrenz und richteten die 
Zollmauern wieder auf. Gegen die Mitte 
des 19. Jahrh machte sich in den euro- 
päischen Staaten der Aufschwung von 
Handel und Industrie und damit die Zu- 
nahme der Produktion und die Steigerung 
des internationalen Verkehrs derart gel- 
tend, daß man, dem Beispiele Englands 
folgend, durch gesetzliche Herabsetzung 
der Schutzzölle sowie durch Eingehung 
von Handelsverträgen mit der Meistbe- 
günstigungsklausel den Handelsverkehr 
zwischen den Staaten bedeutend erleich- 
terte. Bis zum reinen Freihandel ent- 
wickelte sich jedoch die Bewegung nur in 
England. Rußland und die Vereinigten 
Staaten von Amerika schlossen sich von 
ihr ganz aus. 
Während England am Freihandelsprin- 
zip festhielt, setzte in den übrigen euro- 
päischen Staaten im letzten Drittel des 
19. Jahrh wieder eine rückläufige Bewe- 
gung ein. Die Ursache war eine derzei- 
tige Wirtschaftskrise, der Wunsch nach 
agrarischem Zollschutz und die Hoffnung, 
durch erhöhte Zölle zur Besserung der Fi- 
nanzen beitragen zu können. Wenn auch 
umfangreiche Zollerhöhungen eintraten, 
so ist der Unterschied gegen den früheren 
Zustand doch noch bedeutend. Besonders 
sind die Zölle auf Rohstoffe der Indu- 
strie außerordentlich verringert. Einfuhr- 
verbote sowie Ausfuhrzölle und -verbote 
sind fast gänzlich abgeschafft. Auch die 
Vorrechte der nationalen Schiffahrt sind 
zum größten Teil beseitigt. Eine erhöhte 
Bedeutung als handelspolitisches Mittel 
erfuhr die Handhabung der Eisenbahn- 
tarife. 
Für Deutschland nahm die Hp im be- 
sonderen folgenden Verlauf: Wegen der 
  
Handelspolitik. 
zerstreuten Lage der deutschen Terri- 
torien konnte man, als im 17. Jahrh eine 
merkantilistische Handelspolitik einsetzte, 
nicht systematisch Grenzzölle einführen 
und den inneren Verkehr freigeben, son- 
dern man bediente sich der Akzise, einer 
Verbrauchssteuer, die meist bei Einfüh- 
rung der Waren in einen lokalen Bezirk 
(Stadt) erhoben wurde. Nach Beendigung 
der Freiheitskriege begann man mit der 
Ausarbeitung eines Zollgesetzes. Das Er- 
gebnis war das Zollgesetz von 1818. Nach- 
dem der Tarif von dem deutschen Zoll- 
verein übernommen worden war, kam es 
gegen die Mitte des 19. Jahrh zu einer 
schutzzöllnerischen Bewegung, die in den 
Jahren 1842—46 zu einer Erhöhung einer 
Anzahl von Zöllen auf gewerbliche Er- 
zeugnisse und Roheisen führte. Durch 
Handelsverträge mit Österreich (1853) 
und Frankreich (1862) sowie durch Er- 
leichterungen auf dem Gebiete des Schif- 
fahrts-, Post- und Verkehrswesens wur- 
den die Härten der hohen Zölle etwas 
gemildert. Nach Gründung des Norddeut- 
schen Bundes und Erweiterung der Zoll- 
grenzen setzte die freihändlerische Bewe- 
gung ein, die zur Schließung zahlreicher 
Handelsverträge führte. Der Eintritt der 
allgemeinen Krisis brachte die freihänd- 
lerische Politik aber in Mißkredit; im letz- 
ten Viertel des 19. Jahrh riefen Industrie 
und Landwirtschaft nach Schutzzöllen. 
Das Ziel der Hp (1878) wurde: keine 
Tarifverträge, sondern autonome Zoll- 
gesetzgebung, Prinzip der allgemeinen 
Zollpflicht; Freiheit nur für die unentbehr- 
lichen Rohstoffe; Schutz aller Produk- 
tionsinteressen. Soweit Handelsverträge 
geschlossen wurden, vermied man die 
Bindung des Tarifs und ging im übrigen 
Meistbegünstigungsverträge ein. Mit den 
1892 geschlossenen Handelsverträgen be- 
gann von neuem eine Periode der Zoll- 
ermäßigungen. Der Zolltarif von 1902 je- 
doch zeigt schon wieder, hauptsächlich in- 
folge agrarischer Wünsche, das Bestreben 
auf Erhöhung der Zölle. Auf seiner 
Grundlage wurden 1904—05 Tarifver- 
träge mit Italien, Belgien, Rußland, Ru- 
mänien, der Schweiz, Serbien, Österreich- 
Ungarn, Bulgarien und Schweden (1906) 
abgeschlossen, die bis 1917 in Geltung 
sein werden. 
K. Oldenberg Deutschland als Industriestaat, 97; 
K. Dietzel Weltwirtschaft und Volkswirtschaft, f00; 
L. Brentano Die Schrecken des überwiegenden Industrie- 
stasts und das Freihandelsargument, 01; K. Heilfferich 
Handelspolitik, 01; Ad. Wagner Agrar- und Industri-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.