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Handelsbilanz zu erzielen. In gleicher Ab-
sicht wurden Handelsverträge geschlos-
sen, überseeische Kolonien erworben und
die Schiffahrtsverbindung mit ihnen sowie
die Küstenschiffahrt allein dem Heimat-
lande erlaubt.
Nachdem man den mit dieser Hp ver-
folgten Zielen teilweise nähergekommen
war, begannen die Staaten in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrh unter dem Einfluß
der physiokratischen Lehren die sie von-
einander abschließenden Schranken etwas
zu öffnen. Nach der Kontinentalsperre
forderten die emporgekommenen Gewer-
bezweige der europäischen Staaten jedoch
von neuem Schutz besonders gegen die
englische Konkurrenz und richteten die
Zollmauern wieder auf. Gegen die Mitte
des 19. Jahrh machte sich in den euro-
päischen Staaten der Aufschwung von
Handel und Industrie und damit die Zu-
nahme der Produktion und die Steigerung
des internationalen Verkehrs derart gel-
tend, daß man, dem Beispiele Englands
folgend, durch gesetzliche Herabsetzung
der Schutzzölle sowie durch Eingehung
von Handelsverträgen mit der Meistbe-
günstigungsklausel den Handelsverkehr
zwischen den Staaten bedeutend erleich-
terte. Bis zum reinen Freihandel ent-
wickelte sich jedoch die Bewegung nur in
England. Rußland und die Vereinigten
Staaten von Amerika schlossen sich von
ihr ganz aus.
Während England am Freihandelsprin-
zip festhielt, setzte in den übrigen euro-
päischen Staaten im letzten Drittel des
19. Jahrh wieder eine rückläufige Bewe-
gung ein. Die Ursache war eine derzei-
tige Wirtschaftskrise, der Wunsch nach
agrarischem Zollschutz und die Hoffnung,
durch erhöhte Zölle zur Besserung der Fi-
nanzen beitragen zu können. Wenn auch
umfangreiche Zollerhöhungen eintraten,
so ist der Unterschied gegen den früheren
Zustand doch noch bedeutend. Besonders
sind die Zölle auf Rohstoffe der Indu-
strie außerordentlich verringert. Einfuhr-
verbote sowie Ausfuhrzölle und -verbote
sind fast gänzlich abgeschafft. Auch die
Vorrechte der nationalen Schiffahrt sind
zum größten Teil beseitigt. Eine erhöhte
Bedeutung als handelspolitisches Mittel
erfuhr die Handhabung der Eisenbahn-
tarife.
Für Deutschland nahm die Hp im be-
sonderen folgenden Verlauf: Wegen der
Handelspolitik.
zerstreuten Lage der deutschen Terri-
torien konnte man, als im 17. Jahrh eine
merkantilistische Handelspolitik einsetzte,
nicht systematisch Grenzzölle einführen
und den inneren Verkehr freigeben, son-
dern man bediente sich der Akzise, einer
Verbrauchssteuer, die meist bei Einfüh-
rung der Waren in einen lokalen Bezirk
(Stadt) erhoben wurde. Nach Beendigung
der Freiheitskriege begann man mit der
Ausarbeitung eines Zollgesetzes. Das Er-
gebnis war das Zollgesetz von 1818. Nach-
dem der Tarif von dem deutschen Zoll-
verein übernommen worden war, kam es
gegen die Mitte des 19. Jahrh zu einer
schutzzöllnerischen Bewegung, die in den
Jahren 1842—46 zu einer Erhöhung einer
Anzahl von Zöllen auf gewerbliche Er-
zeugnisse und Roheisen führte. Durch
Handelsverträge mit Österreich (1853)
und Frankreich (1862) sowie durch Er-
leichterungen auf dem Gebiete des Schif-
fahrts-, Post- und Verkehrswesens wur-
den die Härten der hohen Zölle etwas
gemildert. Nach Gründung des Norddeut-
schen Bundes und Erweiterung der Zoll-
grenzen setzte die freihändlerische Bewe-
gung ein, die zur Schließung zahlreicher
Handelsverträge führte. Der Eintritt der
allgemeinen Krisis brachte die freihänd-
lerische Politik aber in Mißkredit; im letz-
ten Viertel des 19. Jahrh riefen Industrie
und Landwirtschaft nach Schutzzöllen.
Das Ziel der Hp (1878) wurde: keine
Tarifverträge, sondern autonome Zoll-
gesetzgebung, Prinzip der allgemeinen
Zollpflicht; Freiheit nur für die unentbehr-
lichen Rohstoffe; Schutz aller Produk-
tionsinteressen. Soweit Handelsverträge
geschlossen wurden, vermied man die
Bindung des Tarifs und ging im übrigen
Meistbegünstigungsverträge ein. Mit den
1892 geschlossenen Handelsverträgen be-
gann von neuem eine Periode der Zoll-
ermäßigungen. Der Zolltarif von 1902 je-
doch zeigt schon wieder, hauptsächlich in-
folge agrarischer Wünsche, das Bestreben
auf Erhöhung der Zölle. Auf seiner
Grundlage wurden 1904—05 Tarifver-
träge mit Italien, Belgien, Rußland, Ru-
mänien, der Schweiz, Serbien, Österreich-
Ungarn, Bulgarien und Schweden (1906)
abgeschlossen, die bis 1917 in Geltung
sein werden.
K. Oldenberg Deutschland als Industriestaat, 97;
K. Dietzel Weltwirtschaft und Volkswirtschaft, f00;
L. Brentano Die Schrecken des überwiegenden Industrie-
stasts und das Freihandelsargument, 01; K. Heilfferich
Handelspolitik, 01; Ad. Wagner Agrar- und Industri-