Handschriftenkunde — Handwerkerfrage.
daß nur ein wissenschaftlich gebildeter
Graphologe eine solche zuverlässig vor-
nehmen kann, wenigstens um die Identi-
tät festzustellen. Die Nichtidentität kann
freilich, wenn die Unterschiede augen-
fällig sind, schon der Laie erkennen. Daß
das Gutachten eines „intuitiven‘‘ Grapho-
logen, der nach seinem Gefühl urteilt,
nicht genügt, ist selbstverständlich, eben-
sowenig ist es aber angängig, einfach das
Äußere der Schrift, die Größe und Form
der einzelnen Buchstaben und Schnörkel
miteinander zu vergleichen, wie dies nicht
selten von Schreiblehrern, Archivaren und
Sekretären geschieht, die als Schreib-
sachverständige zugezogen werden. Ge-
gen diese Art der Schriftexpertise wird
seitens der wissenschaftlichen Grapholo-
gen andauernd Protest erhoben, ohne daß
sie freilich bis jetzt völlig beseitigt wäre.
Die Schriftexpertise als Technik und me-
chanische Tätigkeit kann nie zuverlässige
Ergebnisse erzielen; dies kann nur die
wissenschaftliche Hsch, die sämtliche Ei-
gentümlichkeiten der einzelnen Schrift-
stücke sorgfältig auf physiologischer und
psychologischer Grundlage analysiert,
Wert oder Deutung der einzelnen Fak-
toren unter Berücksichtigung sämtlicher
etwa möglichen Nebenumstände be-
stimmt und dann die bei den einzelnen
Schriftstücken erzielten Ergebnisse mit-
einander vergleich. Ein auf derartige
Untersuchungen gestütztes Gutachten bil-
det allerdings eine zuverlässige Grund-
lage für die Tätigkeit des Juristen und ins-
besondere des Kriminalisten. Aufgabe
des Kriminalisten ist es stets, dem Sach-
verständigen das erforderliche Material zu
beschaffen. Dies geschieht entweder in
der Weise, daß der Verdächtige veranlaßt
wird, Schriftproben herzustellen, oder daß
in seinem Besitze befindliche, von ihm
herrührende Schriftstücke beschlagnahmt
werden. Am besten ist natürlich beides
zugleich. Die Schriftproben sollen stets
nach Diktat hergestellt und hierbei mög-
lichst gleiche Schreibmaterialien (gleiches
Papierformat, gleiche Qualität, gleiche
Feder usw) benutzt werden, ebenso soll
Schriftart und, wenn möglich, auch
Schreibschnelligkeit gleich sein. Um
das letztere zu erreichen, ist oft die
Aufnahme mehrerer Schriftproben in
verschiedenen Geschwindigkeiten vorteil-
haft. Zum Diktat wird regelmäßig der
Inhalt des inkriminierten Schriftstückes
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benutzt. Selbstverständlich kann und
darf der Verdächtige in keiner Weise
gezwungen werden, Schriftproben her-
zustellen. Bei der Beschlagnahme von
Schriftstücken sind möglichst solche
auszuwählen, die nach Entstehungszeit,
Entstehungsbedingungen, äußerer Form
usw dem inkriminierten möglichst nahe
stehen. Die Zeit der Entstehung ist,
wenn möglich, festzustellen und zu ver-
merken. Außer der Beschlagnahme von
Schriftstücken selbst ist oft auch die
von Papier, Tinte, Federn, Löschblättern
und sonstigem Schreibmaterial geboten.
G. Meyer Handbuch der Graphologie, Berlin 95;
J.Cr&pieux-Jamin Praktisches Lehrbuch der Grapho-
logie, deutsch von Hans H. Busse, 4. Aufl, Leipzig 98;
. Langenbruch Graphologische Studien, Berlin 95;
Hans Groß Handbuch für Untersuchungsarichter,
München, 08; Niceforo-Lindenau Die Kriminal-
lizei und ihre Hilfswissenschaften. Gr.-Lichterfelde-Ost,
9; Hans H. Busse Über gerichtliche Schriftexpertise,
Juristenzeitung, 2 (1897); derselbe Versuch einer Biblio-
graphie der Graphologie, München 02; H.Schneickert
ie Bedeutung der Handschrift im Zivil- und Strafrecht,
Leipzig 06. Zahlreiche Beiträge in Groß’ Archiv, insbe-
sondere: H. Busse Über Gerichtsgraphologle 2 (1899);
G. Meyer Die Bedeutung und Mängel der gerichtlichen
Schriftexpertise 22 (1906\; Zeitschrift Die Handschrift, be-
gründet von W. Langenbruch, Hamburg 95. Anuschat.
Handwerker s. Gewerbliche Arbeiter.
Handwerkerfrage. Die bedeutende
Entwickelung des Gewerbestandes und
speziell die des Handwerks zum Groß-
betriebe ließen gegen Ende des 13. Jahrh
die Beibehaltung des alten Zunftzwanges
unmöglich erscheinen. Durch das Edikt
vom 2. Nov 1810 und das Gesetz vom
7. Sept 1811 wurde in Preußen die
Gewerbefreiheit eingeführt. Der Befähi-
gungsnachweis wurde beseitigt, die Be-
fugnis zur Ausübung eines Gewerbes nur
von der Entrichtung einer Gewerbesteuer
abhängig gemacht und eine Beschränkung
der Gewerbefreiheit nur aus polizeilichen
Gründen in Aussicht gestellt.
Somit war dem Handwerk zwar Be-
wegungsfreiheit gegeben, nichts aber ge-
gen die Gefahren getan, die ihm von
vielen Seiten ernstlich zu drohen schie-
nen. Die gewaltigen Erfindungen mit der
ihnen folgenden Ausdehnung der Ma-
schinenarbeit und Einführung des Fabrik-
betriebes, die Entwickelung der Kredit-
wirtschaft, welche die Ausbildung. des
Großbetriebes begünstigte, die Verbesse-
rung der Kommunikationsmittel, die dem
Wirtschaftsleben ganz andere Aufgaben
stellte, verursachten einen Niedergang des
Handwerks.
Eine Besserung ihrer Lage erhofften
die Handwerker vor allem von der Auf-
hebung der die Konkurrenz großziehen-