Full text: Rechtslexikon. 1. Band: A-K (1)

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Seuche durch zuwandernde Arbeiter und 
Reisende zurückzuführen sein werden (so 
auch Kirchner Ges Grundlagen der 
Seuchenbekämpfung XIII). Durch dieses 
Gesetz wurde eine zweifache Impfung vor- 
gesehen, d. h. die Revakzination in 
Deutschland eingeführt. Erstens soll 
jedes Kind vor dem Ablauf des nach sei- 
nem Geburtsjahr folgenden Kalenderjahrs 
geimpft werden, sofern es nicht nach 
ärztlichem Zeugnis die natürlichen Blat- 
tern überstanden hat, zweitens soll aber 
auch jeder Zögling einer öffentlichen 
Lehranstalt oder einer Privatschule inner- 
halb des Jahres, in welchem der Zögling 
das zwölfte Jahr zurücklegt, der Schutz- 
pockenimpfung unterzogen werden, so- 
fern er nicht nach ärztlichem Zeugnis in 
den letzten fünf Jahren die natürlichen 
Blattern bestanden hat oder mit Erfolg 
geimpft ist, $ 1. Die 88 2—14 dienen 
der Durchführung dieser Vorschriften, 
$ 12 verlangt von den Eltern etc auf amt- 
liches Erfordern die Führung des Nach- 
weises der stattgefundenen Impfung 
mittels Impfscheines und $ 14 Abs 1 trifft 
für diesen Fall eine Strafbestimmung. 
Neben dieser ist von höchster Bedeutung 
die strafrechtliche Vorschrift des Abs II 
des gleichen Paragraphen: „Eltern, 
Pflegeeltern und Vormünder, deren 
Kinder und Pflegebefohlene ohne ge- 
setzlichen Grund und trotz erfolgter 
amtlicher Aufforderung der Impfung 
oder der ihr folgenden Gestellung ent- 
zogen geblieben sind, werden mit Geld- 
strafe bis zu 50 M oder mit Haft bis 
zu drei Tagen bestraft.“ Es erhebt sich 
hier vor allem die Frage, ob diese Be- 
stimmung dazu dienen soll, nur die Impf- 
weigerung mit einer einmaligen Strafe zu 
belegen, oder ob auf Grund dieser Vor- 
schrift etwa durch willkürlich häufige 
amtliche Aufforderungen immer wieder 
erneute Bestrafungen vorgenommen wer- 
den können, was einen viel stärkeren 
Zwang gegenüber den Impfweigerern be- 
deuten würde. Die Lösung dieser Frage 
hängt mit der Erörterung zusammen, ob 
wir das wiederholte Delikt des 8 14 Abs II 
als ein Dauerdelikt oder als eine Reihe 
selbständiger Delikte anzusehen haben, 
und ob die festgesetzte Strafe als Exeku- 
tivstrafe oder Kriminalstrafe sich charak- 
terisiert. Erst nach Lösung dieser Schwie- 
rigkeiten kann entschieden werden, ob die 
fortgesetzte Bestrafung aus $ 14 Abs II 
  
Impfvorschriften. 
gegen den strafrechtlichen Grundsatz „ne 
bis in idem‘ verstoßen würde. Diese 
Untersuchungen sind von mehreren Ju- 
risten vorgenommen worden und haben 
zu verschiedenen Resultaten geführt. 
Während unter den neueren Autoren 
Bernhardi die mehrfache Bestrafung für 
zulässig erachtet, steht eine andere, noch 
jüngere, aber sehr bedeutende Arbeit auf 
entgegengesetztem Standpunkte. Kast- 
ner gelangt unter Annahme des Charak- 
ters der Kriminalstrafe und des Dauerde- 
likts zu der Überzeugung, daß eine erneute 
Strafverfolgung unzulässig ist. „Da eine 
Unterbrechung der Einheit des Impfdauer- 
delikts nur zu gründen wäre auf eine durch 
die erfolgte Bestrafung verursachte Unter- 
brechung der Identität des Entschlusses, 
und da andererseits eine solche Unter- 
brechung unmöglich ist, so bildet bei der 
Impfweigerung der vor der Bestrafung 
liegende Teil mit dem nach ihr liegenden 
ein einheitliches untrennbares Ganzes. 
Das die Bestrafung überdauernde rechts- 
widrige Verhalten kann daher nicht be- 
sonderer Bestrafung unterworfen werden, 
denn diese Bestrafung wäre als zweifache 
Ahndung eines und derselben Deliktes ein 
Verstoß gegen den Grundsatz ‚ne bis in 
idem‘.‘‘“ Auf dem gleichen Standpunkte 
steht der „Bund der Impfgegner‘“, der sich 
in Deutschland gebildet hat. Man sieht 
aus dieser Vereinsgründung, ein wie vita- 
les Interesse große Kreise an der Inter- 
pretation dieser Strafbestimmung haben. 
(S. auch die unten angegebene Literatur.) 
Für die Pockenbekämpfung gilt ferner 
die vom Bundesrat am 28. Jan 1904 fest- 
gestellte Anweisung zur Bekämpfung der 
Pocken. 
Neben den oben erwähnten zwei Imp- 
fungen in gewöhnlichen Zeitläuften sind 
außerordentliche Zwangsimpfungen beim 
Ausbruch der Krankheit nur dort ausführ- 
bar, wo landesrechtliche Bestimmungen 
dies zulassen. Für Preußen gibt eine 
Handhabe hierzu das sanitätspolizeiliche 
Regulativ vom 8. Aug 1835, jedoch auch 
in anderen Einzelstaaten bestehen dies- 
bezügliche Bestimmungen. 
Zum Impifgesetz vom 8. April 1874 sind 
vom Bundesrate Ausführungsbestimmun- 
gen erlassen worden unter dem 16. Okt 
1874, 5. Sept 1878, 18. Juni 1885 und dem 
28. Juni 1899, Die erstgenannten Erlasse 
betrafen Formularfragen und die Rege- 
lung der Ausführung des Impfgeschäftes,
	        
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