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gung hinzulenken. Mindestens ebenso alt
ist die Überzeugung, daß für die jugend-
lichen, die noch unfertigen Menschen,
eine andere Behandlung erforderlich ist
wie für die Erwachsenen, und zwar auch
in dem Strafverfahren. Doch brauchte es
lange Zeit, bis diese Überzeugung Ge-
meingut wurde, den Widerstand der al-
ten formalistischen Strafprozeßschablone
brach und zuerst in der Praxis, dann
auch in der Gesetzgebung greifbare Wirk-
lichkeiten schuf. Da die veranlassenden
Erscheinungen in allen Kulturstaaten die
gleichen sind, so erblicken wir in dem
Durchdringen der gesonderten Jugendbe-
handlung auch im Strafverfahren eine all-
gemeine, noch nicht abgeschlossene, viel-
mehr erst beginnende Kulturbewegung.
In Europa war es zuerst Norwegen, des-
sen Fürsorgegesetz ein J(ugendgericht)
schuf, ein J, welches zwar nur Erziehungs-
strafen (z. B. Züchtigung) verhängen
konnte, das aber doch über strafbare
Handlungen Jugendlicher in einem beson-
ders gearteten Verfahren zu Gericht saß.
Das Ges vom 6. Juni 1896 gibt dem Vor-
mundschaftsrate solche Befugnisse, vgl
$8 43, 44; über die Zusammensetzung des
Vormundschaftsrates 8 6. Dieses Gesetz
vertritt die Ansicht, die auch in Deutsch-
land eine Entwickelung angebahnt hat,
daß bei der Behandlung der Jugendlichen
das pädagogische Sachverständnis des
Gerichts ein wesentliches Erfordernis sei.
Dieses Sachverständnis suchte Amerika
durch Herausbildung eines Spezialisten-
tums zu erreichen. Ein Einzelrichter, der
besondere Neigung und Fähigkeit zum
Jugendrichter in sich fühlte, übernahm die
strafgerichtliche Behandlung Jugendlicher
als Lebensberuf. Es fiel ihm sowohl die
strafrichterliche wie die fürsorgliche Be-
ter ein großer Teil des strafrechtlichen
Schutzes Jugendlicher. Unter Jugend-
lichen versteht man in Amerika meist
Personen unter 16 Jahren, in Deutschland
Personen zwischen 12 und 18 Jahren.
Dem amerikanischen J steht der „Proba-
tion Officer‘ zur Seite, ein Erziehungs-
pfleger, der die straffälligen oder gefähr-
deten Jugendlichen, die der Richter nicht
verurteilen will, weil er Erziehung für
zweckdienlicher hält, in seine Obhut
nimmt. Die amerikanischen J wirken
nicht in allen Unionsstaaten, und auch in
den Staaten, die sie eingeführt haben, nur
Jugendgerichte.
in einigen Städten. In Kanada und in
England selbst griff man sie auf und
übernahm sie, was für Länder englischen
Rechts eine relativ leichte Mühe war.
Auch in Deutschland mußten diese Ge-
danken zünden, und es entstand zunächst
eine ziemlich umfangreiche Literatur
(s. u.), welche die Frage der Übertragbar-
keit prüfte, bis schließlich in Frankfurt die
Probe der Übernahme mit Erfolg gemacht
wurde. Die so einströmenden Gedanken
fanden bereits mehrere Einrichtungen vor,
welchen die Tendenz innewohnte, das
ganze Jugendstrafrecht umzuwandeln, die
„Strafknechtschaft‘‘ der Erziehbaren zu
beseitigen. Das waren der Strafaufschub
mit Bewährungsfrist und Aussicht auf Be-
gnadigung bei guter Führung, die Für-
sorgeerziehung und die Fürsorgeaus-
schüsse. Die letzteren hatten zwar ur-
sprünglich nur lokale Bedeutung, haben
aber auf den Gang der Entwickelung als
bodenständiges, einheimisches „Erzeug-
nis‘ einen wesentlichen Einfluß gewon-
nen. Die Fürsorgeausschüsse werden,
meist in Anlehnung an die städtische
Selbstverwaltung, gebildet aus Geist-
lichen, Lehrern, Mitgliedern von Er-
ziehungsvereinen und solchen Bürgern
und Frauen, welche Neigung und Eig-
nung haben, die Tätigkeit der Vormund-
schaftsgerichte gegenüber gefährdeten
Minderjährigen zu unterstützen. Ihre Zu-
sammensetzung ist ungefähr die des nor-
wegischen Vormundschaftsrates. Doch
fehlt die gesetzliche Einschaltung in den
Behördenorganismus. Die Fürsorgeaus-
schüsse [FA] hatten ursprünglich 2 Auf-
gaben:
„i1. sich der gefährdeten Kinder durch
Rat und Vermittelung von Hilfe anzu-
| nehmen,
handlung der Jugendlichen zu, sowie wei- |
2. bei strafbaren Handlungen, die von
Jugendlichen im strafmündigen Alter be-
gangen werden, vor Einleitung des Straf-
verfahrens ein Gutachten darüber abzu-
geben, ob die Jugendlichen bei Begehung
der strafbaren Handlung das Maß der Ein-
ı sicht besessen haben, das zur Erkenntnis
ihrer Strafbarkeit erforderlich ist“.
Nach S 56 kann nämlich eine Verurtei-
lung nicht stattfinden, wenn diese Ein-
sicht gefehlt hat.
An Orten, an welchen ein FA besteht,
holt die Staatsanwaltschaft dessen Gut-
achten ein. Verneint der FA die Einsicht,
so stellt die Staatsanwaltschaft regel-