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dagegen die Wissenschaft verstanden,
welche sich lediglich mit den Realien des
Strafrechts beschäftigt. Sie erörtert also
die Frage, wie strafbare Handlungen be-
gangen werden, welche Mittel dem Täter
hierbei zu Gebote stehen, welche Motive
der Tat zugrunde liegen, welche Zwecke
erreicht werden sollen, und hiermit zu-
sammenhängende Fragen. Sie ist inso-
weit also eine Erscheinungslehre des Ver-
brechens. Sie befaßt sich aber ferner
auch mit den Methoden, welche dazu die-
nen, die Erscheinungen des Verbrechens
zu erforschen, den Tatbestand strafbarer
Handlungen aufzuklären, den Täter zu
ermitteln und das Beweismaterial zu be-
schaffen. Sie ist daher auch eine Unter-
suchungskunde. Erscheinungslehre wie
Untersuchungskunde waren zur Zeit des
vielgeschmähten Inquisitionsprozesses
der Gegenstand zahlreicher wissenschaft-
licher Bearbeitungen, die zum Teil noch
heute wertvoll sind. Mit der Einführung
des reformierten Verfahrens fiel das Vor-
verfahren und damit die Feststellung des
Tatbestandes in der Hauptsache der Po-
lizei und Gendarmerie zu, wo die Er-
scheinungslehre und Untersuchungs-
kunde nur vereinzelt wissenschaftlich be-
handelt und namentlich dem Juristen
entfremdet wurden. Erst Hans Groß
machte auf die große Bedeutung der bei-
den Disziplinen aufmerksam und ver-
einigte sie als erster zu einer einzigen
Disziplin, der „Kr“. Er unternahm es
auch, die Stellung der Kr im Verhältnis zu
Strafrecht, StrafprozeßB und den straf-
rechtlichen Hilfswissenschaften festzu-
legen. Die Untersuchungen hierüber sind
noch nicht abgeschlossen, immerhin hat
sich bereits gezeigt, daß die Kr ebenfalls
als eine Hilfswissenschaft des Strafrechts
anzusehen und den übrigen Hilfswissen-
schaften, Kriminalanthropologie, Krimi-
nalsoziologie, Kriminalpsychologie und
Kriminalstatistik, gleichgeordnet ist.
Selbstverständlich stehen diese Wissen-
schaften in engem Zusammenhange und
sind sämtlich mehr oder weniger auf ihre
gegenseitige Unterstützung angewiesen,
wie auch die Kr noch sonstige Hilfs-
wissenschaften, die gerichtliche Medizin,
die Chemie, die Photographie, die Zahn-
heilkunde und zahllose andere heranzieht.
Ja man kann sagen, daß es keine Wissen-
schaft, Kunst oder Technik gibt, deren
sich nicht die Kr in einem oder dem an-
Kriminalistik.
deren Falle bedienen könnte, und unab-
lässig sind die modernen Kriminalisten
bei jedem neuen Fortschritte auf wissen-
schaftlichem Gebiete bemüht, ihn ihren
Zwecken dienstbar zu machen. Nebenbei
bemerkt, geschieht dies heute seitens
der Verbrecher mindestens mit gleichem
Eifer und Erfolge, und der Kr kommt
ohne rastlose Arbeit demgegenüber sehr
leicht in den Rückstand. Der Gedanke,
daß die Kr für die Strafrechtspflege un-
entbehrlich ist, bricht sich mehr und mehr
Bahn. Die Kr begnügt sich auch nicht
mehr damit, lediglich einzelnen Straf-
rechtsfällen zu dienen, sondern sie fängt
auch an, auf Strafrecht und Strafprozeß
(hier namentlich hinsichtlich der Beweis-
lehre) unmittelbar Einfluß auszuüben. In
Deutschland steht allerdings ein Teil der
Juristen der Kr noch sehr ablehnend
gegenüber, und bis hier die Kr eine aka-
demische Disziplin wird, wie dies in
Italien und der Schweiz bereits der Fall
ist, wird wohl noch lange Zeit vergehen.
Ebenso hat es mit der Einführung der von
Hans Groß wiederholt vorgeschlagenen
kriminalistischen Institute, bestehend aus
Kriminalmuseum (s. d.), Laboratorium,
Bibliothek, einer Station für praktische
Arbeiten und ständigen Vorträgen, an-
scheinend noch gute Wege. Und doch
sind derartige Institute für eine wirklich
ausgebildete Kr ein dringendes Bedürf-
nis, denn nur sie ermöglichen, die zu kri-
minalistischer Tätigkeit unbedingt gehö-
renden Demonstrationen und Versuche
in dem hinreichenden Umfange auszu-
führen.
(Siehe auch die Artikel: Beobachtung Bertillonsches
Identifizierungsverfahren Berufstätigkeit, Bilutzpuren,
Detektiv, Erkennungsdienst, Fingerabdrucksverfah“en,
Fußspuren, Handschriftenkunde, Kriminalmuseun, Loka!l-
besichtigung, Pho phien, Polizeihunde, Schartenspuren,
Tätowierungen, Verbrechersprache, Vigilenten, Zinken.)
Carl Falkenberg Versuch einer Darstellung der
verschiedenen Klassen von Dieben, Räubern und Diebes-
heblern, Berlin 16; H. F. v. Jagemann Handbuch der
chtlichen Untersuchungskunde, Frankfurt a. M. 38:
.B.Schlemmer Der praktische Kriminalpolizeibeanite,
Erfurt 40; F. C. B. Av&-Lallemant Das deutsche
Gaunertum, Leipzig 58-62; W. Stieber Praktisches
Lehrbuch der Kriminalpolizei, Berlin 60; H. Ortloff
Lehrbuch der Kriminalpolizei, Leipzig 81; Hans Groß
Handbuch für Untersuchungsrichter, München 08; E.
Wulffen Handbuch für den exekutiven Polizei- und
Kriminalbeamten, Dresden 05; Niceforo-Lindenau
Die Kriminalpolizei und ihre Hilfswissenschaften, ür.-
Lichterfelde - Ost 09; Hans Groß Die Ausbildung des
praktischen Juristen, Zeitschr f. d. ges Strafrechtswissen-
schaft 14 (1894); derselbe Das Kriminalmuseum in Graz,
ebenda 16 (1896); derselbe Kriminalistik, Deutsche
Juristenzeitung 5 (1901); derselbe Kriminalistische Institute,
Groß’ Archiv 1 (1899); Roscher Bedürfnisse der modernen
Kriminalpolizei, ebenda; Lehmann Die Kriminalpolizei
im Dienste der Strafrechtspflege, Groß’ Archiv 6 (1w);
8. Ottolenghi Wissenschaftliches Polizeiwesen in Italien.
Groß’ Archiv 14 (1904); Hausner Zur Literatur der
Kriminelistik, ebenda und 15 (1904). Weitere Literatur
siehe bei den einzelnen Spezilalartikein. Hans Groß Kri-