Full text: Rechtslexikon. 1. Band: A-K (1)

974 
dagegen die Wissenschaft verstanden, 
welche sich lediglich mit den Realien des 
Strafrechts beschäftigt. Sie erörtert also 
die Frage, wie strafbare Handlungen be- 
gangen werden, welche Mittel dem Täter 
hierbei zu Gebote stehen, welche Motive 
der Tat zugrunde liegen, welche Zwecke 
erreicht werden sollen, und hiermit zu- 
sammenhängende Fragen. Sie ist inso- 
weit also eine Erscheinungslehre des Ver- 
brechens. Sie befaßt sich aber ferner 
auch mit den Methoden, welche dazu die- 
nen, die Erscheinungen des Verbrechens 
zu erforschen, den Tatbestand strafbarer 
Handlungen aufzuklären, den Täter zu 
ermitteln und das Beweismaterial zu be- 
schaffen. Sie ist daher auch eine Unter- 
suchungskunde. Erscheinungslehre wie 
Untersuchungskunde waren zur Zeit des 
vielgeschmähten Inquisitionsprozesses 
der Gegenstand zahlreicher wissenschaft- 
licher Bearbeitungen, die zum Teil noch 
heute wertvoll sind. Mit der Einführung 
des reformierten Verfahrens fiel das Vor- 
verfahren und damit die Feststellung des 
Tatbestandes in der Hauptsache der Po- 
lizei und Gendarmerie zu, wo die Er- 
scheinungslehre und Untersuchungs- 
kunde nur vereinzelt wissenschaftlich be- 
handelt und namentlich dem Juristen 
entfremdet wurden. Erst Hans Groß 
machte auf die große Bedeutung der bei- 
den Disziplinen aufmerksam und ver- 
einigte sie als erster zu einer einzigen 
Disziplin, der „Kr“. Er unternahm es 
auch, die Stellung der Kr im Verhältnis zu 
Strafrecht, StrafprozeßB und den straf- 
rechtlichen Hilfswissenschaften festzu- 
legen. Die Untersuchungen hierüber sind 
noch nicht abgeschlossen, immerhin hat 
sich bereits gezeigt, daß die Kr ebenfalls 
als eine Hilfswissenschaft des Strafrechts 
anzusehen und den übrigen Hilfswissen- 
schaften, Kriminalanthropologie, Krimi- 
nalsoziologie, Kriminalpsychologie und 
Kriminalstatistik, gleichgeordnet ist. 
Selbstverständlich stehen diese Wissen- 
schaften in engem Zusammenhange und 
sind sämtlich mehr oder weniger auf ihre 
gegenseitige Unterstützung angewiesen, 
wie auch die Kr noch sonstige Hilfs- 
wissenschaften, die gerichtliche Medizin, 
die Chemie, die Photographie, die Zahn- 
heilkunde und zahllose andere heranzieht. 
Ja man kann sagen, daß es keine Wissen- 
schaft, Kunst oder Technik gibt, deren 
sich nicht die Kr in einem oder dem an- 
  
Kriminalistik. 
deren Falle bedienen könnte, und unab- 
lässig sind die modernen Kriminalisten 
bei jedem neuen Fortschritte auf wissen- 
schaftlichem Gebiete bemüht, ihn ihren 
Zwecken dienstbar zu machen. Nebenbei 
bemerkt, geschieht dies heute seitens 
der Verbrecher mindestens mit gleichem 
Eifer und Erfolge, und der Kr kommt 
ohne rastlose Arbeit demgegenüber sehr 
leicht in den Rückstand. Der Gedanke, 
daß die Kr für die Strafrechtspflege un- 
entbehrlich ist, bricht sich mehr und mehr 
Bahn. Die Kr begnügt sich auch nicht 
mehr damit, lediglich einzelnen Straf- 
rechtsfällen zu dienen, sondern sie fängt 
auch an, auf Strafrecht und Strafprozeß 
(hier namentlich hinsichtlich der Beweis- 
lehre) unmittelbar Einfluß auszuüben. In 
Deutschland steht allerdings ein Teil der 
Juristen der Kr noch sehr ablehnend 
gegenüber, und bis hier die Kr eine aka- 
demische Disziplin wird, wie dies in 
Italien und der Schweiz bereits der Fall 
ist, wird wohl noch lange Zeit vergehen. 
Ebenso hat es mit der Einführung der von 
Hans Groß wiederholt vorgeschlagenen 
kriminalistischen Institute, bestehend aus 
Kriminalmuseum (s. d.), Laboratorium, 
Bibliothek, einer Station für praktische 
Arbeiten und ständigen Vorträgen, an- 
scheinend noch gute Wege. Und doch 
sind derartige Institute für eine wirklich 
ausgebildete Kr ein dringendes Bedürf- 
nis, denn nur sie ermöglichen, die zu kri- 
minalistischer Tätigkeit unbedingt gehö- 
renden Demonstrationen und Versuche 
in dem hinreichenden Umfange auszu- 
führen. 
(Siehe auch die Artikel: Beobachtung Bertillonsches 
Identifizierungsverfahren Berufstätigkeit, Bilutzpuren, 
Detektiv, Erkennungsdienst, Fingerabdrucksverfah“en, 
Fußspuren, Handschriftenkunde, Kriminalmuseun, Loka!l- 
besichtigung, Pho phien, Polizeihunde, Schartenspuren, 
Tätowierungen, Verbrechersprache, Vigilenten, Zinken.) 
Carl Falkenberg Versuch einer Darstellung der 
verschiedenen Klassen von Dieben, Räubern und Diebes- 
heblern, Berlin 16; H. F. v. Jagemann Handbuch der 
chtlichen Untersuchungskunde, Frankfurt a. M. 38: 
.B.Schlemmer Der praktische Kriminalpolizeibeanite, 
Erfurt 40; F. C. B. Av&-Lallemant Das deutsche 
Gaunertum, Leipzig 58-62; W. Stieber Praktisches 
Lehrbuch der Kriminalpolizei, Berlin 60; H. Ortloff 
Lehrbuch der Kriminalpolizei, Leipzig 81; Hans Groß 
Handbuch für Untersuchungsrichter, München 08; E. 
Wulffen Handbuch für den exekutiven Polizei- und 
Kriminalbeamten, Dresden 05; Niceforo-Lindenau 
Die Kriminalpolizei und ihre Hilfswissenschaften, ür.- 
Lichterfelde - Ost 09; Hans Groß Die Ausbildung des 
praktischen Juristen, Zeitschr f. d. ges Strafrechtswissen- 
schaft 14 (1894); derselbe Das Kriminalmuseum in Graz, 
ebenda 16 (1896); derselbe Kriminalistik, Deutsche 
Juristenzeitung 5 (1901); derselbe Kriminalistische Institute, 
Groß’ Archiv 1 (1899); Roscher Bedürfnisse der modernen 
Kriminalpolizei, ebenda; Lehmann Die Kriminalpolizei 
im Dienste der Strafrechtspflege, Groß’ Archiv 6 (1w); 
8. Ottolenghi Wissenschaftliches Polizeiwesen in Italien. 
Groß’ Archiv 14 (1904); Hausner Zur Literatur der 
Kriminelistik, ebenda und 15 (1904). Weitere Literatur 
siehe bei den einzelnen Spezilalartikein. Hans Groß Kri-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.