Full text: Fünfzig Jahre aus Preußens und Deutschlands Geschichte.

98 Wilhelm der Siegreiche. 
war man damit einverstanden, daß „Preußen mit allen Großmächten in freund- 
schaftlichem Einvernehmen zu stehen habe, ohne sich fremden Einflüssen hin- 
zugeben und ohne sich die Hände unzeitig durch Traktate zu binden, daß es in 
Deutschland moralische Eroberungen machen müsse, durch eine weise 
Gesetzgebung bei sich, durch Hebung aller sittlichen Elemente und durch Er- 
greifung von Einigungselementen, wie der Zollverband es ist, der indes einer 
Reform zu unterwerfen sei.“ Aber man wollte vor allem Thaten sehen, denn 
der schönen Worte hatte man früher bereits hinlänglich gehört. Indes lebten 
frohe Hoffnungen wieder auf; hatte man doch solch eine bestimmte und selbst- 
bewußte Sprache vom Throne herab seit langer Zeit nicht gehört. Ein andres 
kam noch hinzu. Mit Ausnahme des einzigen, aber schnell vorübergegangenen 
Falles im Jahre 1848 hatte Preußen seit der Zeit Steins keine Regierung 
besessen, die auch den berechtigten Forderungen des politischen Liberalismus. 
zugänglich gewesen wäre. Jetzt befand sich zum erstenmal eine ansehnliche 
Mehrheit des Volkes in Übereinstimmung mit den leitenden Gewalten; sie er- 
wartete unter der neuen Regierung einen maßvollen Fortschritt und begrüßte 
diesen Zustand als den einer „neuen Ara“, ja im Volksmunde ward dieser 
Name zur Bezeichnung für die ersten Regierungsjahre des Prinz-Regenten all- 
gemein üblich. 
Mannigfache Kundgebungen bestätigten den Eindruck und die Wirkung, 
welche diese Umkehr zum Besseren auf die Stimmung jener Tage zur 
Folge hatte. 
Aber die der neuen Regierung günstige Stimmung hielt nicht an. Und 
doch wäre zu keiner Zeit gegenseitiges und andauerndes Vertrauen zwischen der 
Regierung und dem Volke und dessen verordneten Vertretern mehr am Platze 
gewesen. Denn die Eifersucht zwischen den beiden Mächten OÖsterreich und 
Preußen und der Streit darüber, welche von beiden zur Durchführung des 
deutschen Einigungswerks und zur Führung der deutschen Volksstämme berufen 
sei, waren seit dem italienischen Kriege noch lebhafter als vordem erwacht und 
ließen die Gefahr eines Krieges innerhalb Deutschlands um die Vorherrschaft 
Preußens oder Österreichs immer näher rücken. In Voraussicht der drohenden 
Kriegsgefahr war nun das vornehmste Bestreben der preußischen Regierung 
darauf gerichtet, die Volkskraft durch eine tüchtige Wehrverfassung zu sammeln, 
um beruhigter den Stürmen der Zukunft entgegensehen zu können. 
Thronbesteigung des Königs Wilhelm. Die Weihnachtszeit des Jahres 1860 
wurde für das königliche Hans durch bange Befürchtungen getrübt. Wieder- 
holte Gehirnschläge hatten den Zustand des Königs Friedrich Wilhelm IV. in 
solchem Grade verschlimmert, daß sein Tod für ihn als eine Wohlthat gelten 
konnte. Kaum war der erste Tag des neuen Jahrzehnts vorübergegangen, als am 
2. Januar 1861 eine Trauerkunde die Monarchie von einer Grenze zur andern 
durchziterte „Der König ist tot!“ — so lautete sie. Man war durch das 
längst Erwartete nicht überrascht, aber doch erschüttert. Denn im Hinblick auf 
das Gute, das Friedrich Wilhelm IV. gewollt, angesichts der Schicksalsschläge, 
die ihn getroffen, widmeten auch diejenigen, die mit den von dem Monarchen 
eingeschlagenen Wegen nicht einverstanden gewesen waren oder gar unter den
	        
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