120 Die Zeit der Militärreorganisation.
die Zusammenberufung der Heereskörper in der Heimat — und auch für ihre
Beförderung an die Grenze mittels der Eisenbahnen.
Fortschaffungsmittel. So zahlreich nun in der Gegenwart die Heere
geworden sind, so gewaltig sind auch die Mittel, sie fortzubewegen; Deutschland
besitzt so viel Eisenbahnmaterial, daß die ganze Feldarmee gleichzeitig fortgeschafft
werden könnte. Die Massen sind also, was ihre Bereitstellung für den Krieg
anlangt, viel verwendbarer geworden als ehedem.
Wie belangreich aber auch die Fortschaffungsmittel sind, so kommen beim
Aufmarsche zahlreiche Erfordernisse in Betracht, und mancherlei Umstände können
mit einem Male die Sachlage verändern. Ein ganz entscheidender Punkt ist
heutzutage die Lage und Ausnutzung der Eisenbahnen. Die letzten noch vor
Überraschungen gesicherten Stationen ergeben die Punkte für die zweckdienliche
natürliche Aufmarschlinie des Heeres. Bei der Notwendigkeit, die ungeheuren
Truppenmassen so schnell wie irgend möglich ins Feld zu führen, ist die Aus-
nutzung aller in passender Richtung laufenden Schienenwege bis zum äußersten
Maß der Leistungsfähigkeit erforderlich. Für die besonders gefährdeten Grenz-
strecken sind überdies in der Regel noch besondere, in erster Linie den Heeres-
bedürfnissen dienende sogenannte „strategische Eisenbahnlinien“ vorgesehen.
Ein einziges, etwa 30000 Mann starkes Armeekorps mit circa 90 Ge-
schützen bedarf auf einer Straße hinmarschierend drei deutsche Meilen zu seinen
Bewegungen, und es braucht in Landstrichen mittlerer Wohlhabenheit an sechs,
in ärmeren gar an zehn oder noch mehr Geviertmeilen, um sich unter Dach und
Fach zu bringen. Das deutsche oder das französische Heer hätten demnach einen
Raum bis 200 Geviertmeilen, d. h. den einer ganzen Grenzprovinz, zu ihrer
Versammlung in Anspruch zu nehmen; so viel brauchte auch im Jahre 1866
die österreichische Nordarmee zu ihrer Aufstellung, beziehentlich Konzentrierung.
Unter allen Umständen ist es von Wichtigkeit, wenn der Feldherr für jedes zur
Zusammenwirkung bestimmte Armeekorps sich eine Straße sichern kann.
Die Konzentrierung der Streitkräfte zweier sich bekriegenden Mächte ersten
Ranges bietet heutzutage sonach ein Bild, das auf eine großartige Völker-
wanderung hinausläuft, und es erinnert dies an die Zeiten des Durchmarsches
der „großen Armee“ Napoleons I. auf allen Hauptstraßen des mittleren Europas,
freilich mit dem Unterschiede, daß dem Schlachtenmeister die gewaltigen und
raschen Fortbewegungsmittel und die Vorteile der neuen Schußwaffen nicht zur
Verfügung standen. Jede der gegenwärtigen Großmächte kann etwa eine
Million Menschen und mehr als 300 000 Pferde ausmarschieren lassen, so daß
sich innerhalb weniger Wochen die Bevölkerung eines kleinen Königreichs und
über eine halbe Million Pferde über das Aufmarschgebiet ergießen.
Erfordert auch die Notwendigkeit, die Transporte gegen Ende der Fahrt
auf einer beschränkten Zahl von Linien auslaufen zu lassen, einen Zeitraum
von mehreren Tagen, um die gesamte Streitmacht anzusammeln, so bleiben es
doch eben nur Tage, nicht mehr Monate. Im Jahre 1870 stand etwa drei
Wochen nach der Kriegserklärung das ganze deutsche Heer zum Einmarsche in
Frankreich an den Grenzen bereit. Frankreich war damals mit Deutschland