Full text: Quellensammlungen zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht. 1. Band. (1)

140 Nr. 58. Reichsbeamtengesetz. 
8. 90. Wenn auf den Antrag des Beamten der Staatsanwaltschaft oder des 
Angeschuldigten der Disziplinarhof das Vorhandensein von Gründen anerkennt, 
welche die Unbefangenheit der zuständigen Disziplinarkammer zweifelhaft machen, so 
tritt eine andere durch den Disziplinarhof ernannte Disziplinarkammer an deren Stelle. 
8. 91. Der Disziplinarhof besteht aus elf Mitgliedern, von denen wenigstens 
vier zu den Bevollmächtigten zum Bundesrathe, der Präsident und wenigstens fünf 
zu den Mitgliedern des Reichs-Oberhandelsgerichts.) gehören müssen. 
Die mündliche Verhandlung und Entscheidung in den einzelnen Disziplinar- 
sachen erfolgt durch sieben Mitglieder. Der Vorsitzende und wenigstens drei Beisitzer 
müssen zu den richterlichen Mitgliedern gehören. 
8. 92. Die Geschäftsordnung bei den Disziplinarbehörden, insbesondere die 
Befugnisse des Präsidenten und die Reihenfolge, in welcher die richterlichen Mit- 
glieder an den einzelnen Sitzungen theilzunehmen haben, wird durch ein Regulativ 
geordnet, welches der Disziplinarhof zu entwerfen und dem Bundesrath zur Be- 
stätigung einzureichen hat.) 
8. 93. Die Mitglieder der Disziplinarkammern und des Disziplinarhofs 
werden für die Dauer der zur Zeit ihrer Ernennung von ihnen bekleideten Reichs- 
oder Staatsämter vom Bundesrath gewählt, vom Kaiser ernannt, und für die Er- 
füllung der Obliegenheiten ihres Amts verpflichtet. 
8. 94. In der Voruntersuchung wird der Angeschuldigte unter Mittheilung 
der Anschuldigungspunkte vorgeladen und der Beamte der Staatsanwaltschaft zuge- 
zogen. Dieselben werden, wenn sie erscheinen, mit ihren Erklärungen und Anträgen 
gehört. Die Zeugen werden, nach Befinden eidlich, vernommen, und die sonstigen 
Beweise erhoben. Den Vernehmungen der Zeugen darf weder der Beamte der 
Staatsanwaltschaft noch der Angeschuldigte beiwohnen. 
Die Verhaftung, vorläufige Festnahme oder Vorführung des Angeschuldigten 
ist unzulässig. 
§. 95. Ueber jede Untersuchungshandlung ist durch einen vereideten Protokoll- 
führer ein Protokoll aufzunehmen. Den vernommenen Personen ist ihre Aussage 
unmittelbar nach der Protokollirung vorzulesen, um denselben Gelegenheit zur Be- 
richtigung und Ergänzung zu geben. 
8. 966. Wenn der Voruntersuchungs-Beamte die Voruntersuchung für geschlossen 
erachtet, so theilt er die Akten dem Beamten der Staatsanwaltschaft mit. Hält dieser 
eine Ergänzung der Voruntersuchung für erforderlich, so hat er dieselbe bei dem Vor- 
untersuchungs-Beamten zu beantragen, welcher, wenn er entgegengesetzter Ansicht ist, 
die Entscheidung der obersten Reichsbehördes) einzuholen hat. 
8. 97. Nach geschlossener Voruntersuchung ist dem Angeschuldigten der Inhalt 
der erhobenen Beweismittel mitzutheilen. Darauf werden die Akten an die oberste 
Reichsbehördes) eingesendet. 
8. 98. Die oberste Reichsbehörde ) kann mit Rücksicht auf den Ausfall der 
Voruntersuchung das Verfahren einstellen, und geeigneten Falls eine Ordnungsstrafe 
verhängen. 
Der Angeschuldigte erhält Ansfertigung des darauf bezüglichen, mit Gründen zu 
unterstützenden Beschlusses. 
8. 99. Die Wiederaufnahme des Disziplinarverfahrens wegen der nämlichen 
Anschuldigungspunkte ist nur auf Grund neuer Beweise und während eines Zeit- 
raums von fünf Jahren, vom Tage des Einstellungsbeschlusses ab, zulässig. 
  
1) Vgl. S. 139 Anm. 5. 
2) Geschäftsordnung v. 18. April 1880 (CBl. S. 208). 
2) S. unten 8 159.