10 Erziehungslehre und Staatslehre im allgemeinen.
jeder ift, mie durd) andere, fo zugleich für andere da, einerlei, ob mit oder
ohne Abfiht” (I, 85). „Die Frau ift für den Mann da, aber der Mann
wiederum für die Stau; die Eltern für die Kinder, aber die Kinder aud) für
die Eltern. Dienjtboten und Herrfchaft, Meifter und Gefellen, der Arbeiter
und der Urbeitgeber, Freund und Freund, die Gemeinde und ihre Glieder,
der Staat und feine Bürger, die Gefellfchaft und der Einzelne, Volk und
Volk und das einzelne Volk und die Menjchheit — wer nennt ein Verhältnis,
ın dem nicht der eine für den andern und diefer wiederum für ihn da
mwäre?” (©. 86). „Die Gefellfchaft it darnad) zu definieren als die
tatfächlihe Organifation des Lebens für und durch andere und, meil der
Einzelne das Beite, mas er ijt, nur durch andere ijt, darum zugleich als die
unerläßlidie Yorm des Lebens für fih” (1,9). Ariftoteleg Wort
„Zoon politikon* bezeichnet dies treffend. Der Mensch ift ein gefellfchaft-
fies Wefen, ein Wejen, daS nah Aristoteles nur in der Gefellfchaft
und durch fie vollfommen, d. h. das wird, wa3 es wird. Die Welt ift für
mid, für meine Entwidlung, Bildung, Erziehung, für mein Wirken und
Schaffen da und darum bin ich wieder für die Welt da. „Keder ift für die
Welt und die Welt ijt für jeden da” (I, 99). Zederift fürden Staat
da und derG©taat für jeden: Dasijtderuumiderleglide
Urgrundfaßgaller Staatserziehungslehre.
Do ut des! Das it daS Kennwort der Staatserziehung. Der Staat
gibt fo unendlid) vieles, Damit ihm der Einzelne und die Erziehung der Ein-
zeinen ihm diefe Mohltaten, diefe Dienjte reichlich vergelten. Die Staats»
erziehungslehre fußt vor allem auf der ethifchen dee der Vergeltung, nicht
nur de3 reinen Wohlwollens; denn der Staat ift nicht ein Hilfloje3 Wejen,
fein armer Wicht; der Staat fan die ihm ermwiefenen Dienite gleichwertig
zurüdzahlen. Aber er ift auf die Dienfte der Erziehung angemiefen, weil fein
Beitehen und Gedeihen, feine Entmidiung und Zukunft von bejtimmten Be-
dingungen abhängt, die im Beivußtfein, in der Seele, im Charakter der cin-
zelnen Bürger liegen. Das betonte bereit3 Hegel: „Nicht durd) die Gemalt
hängt der Staat zufammen, fondern das Haltende ift allein das Grundgefühl
der Ordnung, das alle haben” (Philofophie des Nects). Die Örundlegung
diefer unerläßlichen Vorbedingungen hat in der Jugend zu erfolgen und bildet
deshalb eine Aufgabe der Erziehung.
Die Staatserziehungslehre Hat vollzählig und planmäßig darzulegen,
was die Erziehung zuguniten des Staates an der Jugend tun und erreichen
muß und Fan; fie hat auszuforfchen, in welcher Reihenfolge und Urt dieje
Eindlichen Beeinfluffungen vorzunehmen find, damit fie einesteil zimedmäßig
und andernteild findesgemäß bleiben. Die Erziehung darf niemals ftaat-
feindlich, jtaat8los, jtaatsgleichgültig fein und werden; fie foll vom Gtaats-
gedanken durchorungen, ftaat3treu und ftaat3gemäß fein. BE
Diefe ftaatstreue Erziehung ift gleicherweife unumgänglic, für
die Snaben mie für die Mädchen, für die niedriger oder höher gebildete
Sugend, für den Wähler mie für den Nichtwähler, für den Menihen ala
Subjekt oder Objekt der Staatsgemwalt, für jedes Wahlrecht und jede Staat3-
und Negierungsform.
63 ift darum gänzlich einfeitig, diefe jraatsgemäße Erziehung auf das
gleiche und allgemeine Reichsmahltecht zu gründen‘. Wir geraten fofort
1) Siehe Dr Rühhınann, Politiihe Bildung, ©. 54, Glod u. a.