Full text: Bavaria. Landes und Volkskunde des Königreiches Bayern.

Zur Ethnographie des Rieses. 853 
Die Rieser gehören zum schwäbischen Stamme, nach Geschichte, Dialekt 
und Eigenart ihres Wesens. Im Osten an Franken stoßend und mit seinen 
Bewohnern verkehrend, erscheinen sie aber einigermaßen angefränkelt. 
Wenn man, allgemein zu reden, in dem Schwaben mehr Innerlichkeit und 
Tiefe, zugleich aber auch mehr Zornmuth und Starrköpfigkeit — im Ganzen, 
um einen hier verständlichen philosophischen Ausdruck zu brauchen, mehr 
„Fürsichsein“ erblicken muß, so charakterisirt sich der Franke durch größere 
Fröhlichkeit, Leichtigkeit, unmittelbare Gewandtheit, und durch eine geselligere 
Natur. Hab' ich nun Recht mit der Behauptung, daß über den Rieser ein 
Hauch fränkischen Wesens geht, so dürfte ihm das keineswegs zum Schaden, 
bei Vielen zur Empfehlung gereichen. 
An anderm Orte schon (in der Einleitung zu der ersten meiner „Er- 
zählungen aus dem Ries“) hab' ich ausgesprochen, daß das Ries eine „kleine 
Welt“ — auffällig individualisirt, reich an Gegensätzen und Abstufungen ist. 
Dem größten Theile nach bayerisch, hat es im Norden und Westen einen 
Strich für Württemberg abgegeben, und es begreift sich, daß namentlich ein 
anders eingerichtetes Gemeindeleben auf die Landbevölkerung hier nicht ganz 
ohne modificirenden Einfluß geblieben ist. Wenn die östlichen Gränzdörfer 
ein fränkisches Gepräge haben, so finden sich im Süden zwischen Harburg 
und Wemding ein paar katholische Orte, die zur „Pfalz“ gerechnet wurden, 
und deren männliche Jugend noch in neuester Zeit sich durch eine besondere 
Schlagfertigkeit ausgezeichnet hat. Im ganzen Gau überwiegt die prote- 
stantische Bevölkerung; es gibt aber nicht nur eine gute Zahl rein katholi- 
scher, sondern auch einzelne paritätische Orte. Die fürstliche Residenz Waller- 
stein rühmt sich einer stattlichen Kirche, und die Feier des Frohnleichnams- 
festes lockt hier stets auch viele Protestanten der Umgegend zu theilnehmender 
Betrachtung herbei. Wemding besitzt ein Mönchskloster und ist ein berühm- 
ter Wallfahrtsort, zu welchem in gewissen Zeiten sommerlicher Muße na- 
mentlich auch Landleute von der Lech= und Donaugegend schaarenweise her- 
beiströmen. Unter den Protestanten dürften die Anschauungsweisen, die heut- 
zutage auf dieser Seite überhaupt gelten, so ziemlich alle vertreten sein, von 
der freiesten an bis zur strengsten, indem es nicht an „Stillen im Lande“ 
fehlt und für das specifische Altlutherthum rüstige Kämpfer streiten. Ju- 
den finden sich an verschiedenen Orten, in allen Schattirungen des Reich- 
thums und Ansehens: solche, denen der Bauer als einflußreichen Finanz- 
mächten die gebührende Rücksicht zuzuwenden pflegt, und andere, die er mit 
Selbstgefühl dutzt, indem sie sich ihm als untergeordnete merkantilische Ge- 
hülfen bieten. — Sogar ein Stück aus der socialen Organisation des frühern 
Deutschlands ragt in das gebildete Ries herein: ich meine die Nachkommen 
der sogenannten „Freileute“, die auf dem Flochberg bei Bopfingen saßen und 
noch in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts privilegirte Bettler spielten, 
aber mit ihren großen Stöcken voch eigentlich gefährlicher aussahen als sie
	        
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