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Die Gegenmaßnahmen der Russen
Der Rückprall der Kavalleriekorps, die Hindenburg vor sich her in die
Weichsel trieb, schreckte die russische Heeresleitung vollends aus ihren Sieges.
träumen. Als der Großfürst seine Kosakendivisionen auf die Weichselbrücken
zurückfluten sah, wurde ihm klar, daß die deutschen Streitkräfte in Südpolen
sehr ernst einzuschähen seien und im Begriff waren, einen tödlichen Stoß
in die rechte Flanke seiner galizischen Armeen zu führen. Er löste sofort
starke Staffeln von der galizischen Angriffsgruppe ab, lenkte sie in Gewalt-
märschen in die Brückenköpfe zwischen Zawichost und Iwangorod, um die
Weichsellinie zu verskärken und befahl, die Sammlung der 9. Armee zu be-
schleunigen. Da zwischen Radom und Sandomierz noch vorgeschobene
Abteilungen aller Waffen standen, hoffte er den kühnen Angreifer aufzu-
halten, bis diese Antcerstützungen anlangten und dem Gegner vor Jwangorod
eine Schlacht bieten konnten.
Die russische Heeresleitung begnügte sich jegt nicht mehr mit halben
Maßnahmen. Der rrügerische Wahn von einem unaufbaltsamen Siegeszug
nach Angarn, Mähren und Schlesien hinein war jäh verflogen. Als sich am
3. Okkober mit dem Flankenangriff Hindenburgs plöglich ein Gegenangriff
der österreichischungarischen Armeen zu vermählen begann, die auf einmal
wieder streitbar im Felde erschienen und vom Dunajec, der Biala und der
Ondawa gegen den San vorrückten, stand man im russischen Hauptquartier
vor der großen wichtigen Frage, was zur Wiederaufrichlung der über Nacht
zusammengebrochenen Lage zu tun sei. Die Frage war schwer zu lösen, da
sich nicht unterscheiden ließ, wo das Schwergewicht der feindlichen Gegen-
angriffe zu suchen war, ob in Polen, wo Hindenburg anrückte, oder in Galizien,
wo die Armeen Erzherzog Friedrichs sich in Bewegung sehten. Schon am
28. September zersprengten Boroevies Reiter bei Biecz russische Kavallerie,
die eben die Ropa überschritten hatte und gegen den Schlüsselpunkt der rechten
Flanke der 3. Armee, das wichtige Gorlice, vordringen wollte. Der russische
Siegeslauf, der schon aus strategischen Gründen ins Stocken geraten war,
empfing damit in Westgalizien den ersten taktischen Rlckschlag. Drohte
den Russen auch in Galizien „das blitende Vergeltungsschwert“, wie Clause-
wit den schnellen, kräftigen Abergang aus der Verteidigung zum Angriff
sinnfällig umschrieben hat?
Im Hauptquartier zu Brest-Litowsk, wo jebt alle Fäden in der Hand
Nikolai Nikolajewitschs zusammenliefen, wurde man sich des Ernstes der
Lage bewußt. Das stolze strategische Gebäude, das über den galizischen Er-
folgen errichtet worden war, lag jäh in Trümmern. Der Stoß, den
Hindenburg gegen die russische Flanke und die Grundstellung der Weichsel
führte, indem er sich gegen Iwangorod und Nowo--Alexandrija wandte,
hatte schon als Drohung genügt, den Vormarsch in Westgalizien zu