386 Zweiundzwanzigstes Kapitel 21. Januar 1873
greifende Anderung des Bestehenden zählte naturgemäß in höhern
Kreisen mancherlei Gegner, und auch die liberalen Parteien ver-
hielten sich ziemlich kühl zu der angedeuteten Reformaussicht, da
ihnen vor allem an der kraftvollen Durchführung der Kreisordnung
gelegen schien. Sie hielten die Kreisordnung in dieser Beziehung,
wenn sie einmal durchgebracht war, für den „Sperling in der Hande
und verrieten wenig Verständnis für die Herrenhausreform, die ihnen
nur als „Taube auf dem Dache“, d. h. wenig greifbar vorschweben
mochte.
„Anders der leitende Staatsmann. Er huldigte der Ansicht,
daß, wenn man einen Louisdor (die Herrenhausreform) erst über-
haupt besitze, man sehr leicht einen Thaler (die Kreisordnung) ein-
gewechselt bekomme. Darum, als das Herrenhaus im Herbste sich
abermals renitent erwies,1 war man in Varzin schlechterdings nicht
ganz unzufrieden mit dieser Haltung, ohne sich deshalb sehr für den
Pairsschub zu erwärmen. Man wollte eben mehr. Daher jene
Winke einzelner Herrenhausmitglieder, die zu verstehen gaben, daß
der auf Urlaub befindliche Fürst durchaus nicht für die Kreis-
ordnung schwärme. In der That scheint es, daß der damalige
preußische Ministerpräsident gegen eine Amendierung des Kreis-
ordnungsentwurfs im Sinne des Herrenhauses nichts einzuwenden
hatte, und daß er einzelnen seiner Kollegen aus diesem Hause gegen-
über mit seiner Ansicht nicht hinter dem Berge hielt. Welche Pläne,
wenn diese Nachricht wirklich der Sachlage entspricht, dabei ver-
folgt wurden, ist nach dem Gesagten einleuchtend; denn dann konnte
der Fürst als Vermittler eintreten und dem Oberhause schließlich
jene konsultative Stellung zuweisen, die er für sein Fortbestehen als
lebendiger Faktor im Staatsleben für unumgänglich hielt. Man
weiß, daß diese Ansicht durchkreuzt wurde, und zwar durch den
Pairsschub.: Letztere Maßregel war von Varzin aus durch ein
schriftliches Votum, das für sofortige Herrenhausreform eintrat, be-
kämpft worden, und diesem Votum hatte sich Graf Roon als einziges
1 Indem es am 31. Oktober die Kreisordnung mit 145 gegen 18 Stimmen
ablehnte.
2 Ernennung von 25 neuen Herrenhausmitgliedern am 30. November.
Hierauf nahm das Herrenhaus am 9. Dezember mit 116 gegen 90 Stimmen die
Kreisordnung an.