Full text: Deutschlands auswärtige Politik 1888-1914.

102 2. Abschnitt. Weltpolitische Mühen obne zureichende Mitel. 1896—1903. 
  
  
keiten politischer Gruppenverschiebungen, sobald die Seemacht im Spiele 
ist. Taucht hier ein neuer Seemachtfaktor auf, verringert sich oder ver- 
schwindet dort ein alter, so tritt unmittelbar und überall die Wirkung 
davon zutage, sei es durch Verschiebungen, sei es durch Gewichts- und 
Druckausgleich. Kann man bei den stärker werdenden Seemächten sagen, 
daß ihre seeische und überseeische Politik (nicht der Handel) der Flagge 
folgt, so ist bei den schwächer werdenden fast ohne Ausnahme das Um- 
gekehrte der Fall. Unter einem anderen Gesichtspunkte freilich steht außer 
Zweifel, daß eine starke Seemacht sich nur ein Bolk schaffen und erhalten 
kann, dessen Machttrieb politisch, wirtschaftlich und national auf ganz ge- 
sunden Füßen steht, das in seiner überwiegenden Mehrheit und dauernd 
von der Notwendigkeit überzeugt ist, daß es die notwendigen Opfer bringen 
muß; das außerdem jene Wahrheit in sich aufgenommen hat, die der 
Deutsche Kaiser mit den Worten bezeichnete: daß Reichsgewalt See- 
gewalt und Seegewalt Reichsgewalt ist, daß beide einander bedingen und 
die eine ohne die andere nicht besteben kann. 
Selten ist ein für Deutschland so wahres Wort gesprochen worden. 
Cherbourg — Kreta — Kiautschou — Angola. 
Zm Oktober 1896 reiste Zar Nikolaus mit der Zarin nach Frankreich, 
landete in Cherbourg und bielt von dort seinen Einzug in Paris. Der 
Präsident der Republik sprach von der Union des mächtigen Kaiserreiches 
und der arbeitsamen Republik, die einen wohltätigen Einfluß auf den 
Weltfrieden üben könnte, „befestigt durch eine erprobte Treue, wird diese 
Union fortfahren, überallhin ihren glücklichen Einfluß geltend zu machen“. 
Der Zar sprach von den „uns so wertvollen Banden. Diese Freund- 
schaft kann, wie Sie selbst sagten, durch ihre Beständigkeit nur den glück- 
lichsten Einfluß ausüben.“ Im Lager von Chalons erwähnte der Zar 
„das tiefe Gefühl der Waffenbrüderschaft“ und der Präsident der Re- 
publik „die feierliche Bekräftigung unwandelbarer Freundschaft“. In 
beiden Wendungen lag die Andeutung der Militärkonvention. Das 
Wort Bündnis fehlte aber, und dieser Umstand erregte in Frankreich 
einige Unrude. 
Zm Sommer 1897 erbielt der Präsident der Republik eine Einladung 
vom Zaren nach Kronstadt. Trinksprüche ähnlichen Inhaltes wurden 
ausgetauscht, und da endlich fiel auf beiden Seiten das Wort von den 
„vereinten und alliierten Nationen, die vom gemeinsamen Ideal der 8i- 
vilisation, des Rechtes und der Gerechtigkeit geleitet werden und sich 
brüderlich in der loyalsten und aufrichtigsten Umarmung zusammen- 
schließen“. Das Organ des damaligen Ministerpräsidenten Méline, „Soir“,
	        
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