248 3. Abschnitt. Vor und nach Algeciras. 1903—1908.
der deutschen Flotte schon Anfang der neunziger Jahre praktisch ber-
vorgetreten und konnte die Priorität unter allen Flotten der Welt für
sich beanspruchen. Es war mithin kein Wunder, wenn auf ihn einerseite,
auf die Möglichkeit anderseits, die deutsche Flotte dauernd in den hei-
mischen Häfen konzentriert zu halten, besonderes Gewicht gelegt wurde,
und man in diesen beiden Momenten die Möglichkeit erblickte, die Uber-
macht anderer Flotten auszugleichen: die französische Flotte befand sich
zur einen Hälfte im Mittelländischen Meere, zur anderen an der atlan-
tischen Küste Frankreichs, während beträchtliche Kontingente in Ostasien
lagen. Oie russische Flotte verteilte sich in normalen Zeiten auf das Bal-
tische Meer, das Schwarze Meer und Ostasien, die Flotte Großbritanniens
hatte ihren Schwerpunkt im Mittelländischen Meere und war beinahe
an allen wichtigen Punkten des Erdballes mehr oder minder in Anspruch
genommen. So konnte man in Oeutschland um 1900 damit rechnen,
daß keiner der denkbaren Gegner in der Lage sein würde, in einem Kriege
annähernd seine gesamte Streitkraft gegen die deutsche Nordseeflotte zu
konzentrieren. Diese Berechnung erhielt einen starken und unerwar-
teten Stoß durch den Ausgleich der englisch-französischen Meinungsver-
schiedenheiten und die Schließung einer engen politischen Freundschaft,
welche von tiefer, ungekünstelter Zustimmung der beiden Nationen getragen
wurde.
Die Größe und Bedeutung des Umschwunges, der sich in den Jahren
1902 bis 1905 vollzog, ist enorm: 1902 englisch-französische Spannung
im Mittelmeer, beginnende englisch-deutsche Spannung, starke englisch-
russische Spannung. 1904 englisch-französische Freundschaft, englisch-
japanisches Bündnis, Berschwinden der russischen Flotte aus den euro-
päischen Gewässern. Mit Llusnahme — aber auch nur bie 1905 — der
Linienschiffsdivision im fernen Osten war die gesamte Schlachtflotte
Großbritanniens gegen ODeutschland frei geworden. Das galt auch vom
Mittelmeergeschwader. Der Zusammenhang zwischen der Seemacht an
sich, ihrer Organisation und Dislokation, ist kaum jemals so drastisch und
auch so imponierend in die Erscheinung getreten wie in jener Aeuorgani-
sation der britischen Flotte um die Fahreswende 1904/05; sie wurde dann
von Jahr zu Jahr mächtiger entwickelt.
War bier die wirkende Grundursache in dem Wachsen der deutschen
Flotte und in der Sicherheit der Durchführung des deutschen Flotten-
gesetzes zu erblicken, so galt das gleiche für eine zweite Aeuerung, näm-
lich den Grundsatz der unmittelbaren Schlagfertigkeit und Verwendunge-
bereitschaft möglichst aller gefechtsbrauchbaren Schiffe. Bevor eine
nennenswerte deutsche Flotte vorhanden war, stand es bei den großen
AMarinen, wie England und Frankreich, um die Schlagfertigkeit der je-