Potsdam — Agadir — Tripolis. 1909—1912. 391
denn dort begann der berechtigte wirtschaftliche Wettbewerb deutscher
Kaufleute und Unternehmer, Reibungen hervorzurufen.
Aus diesen und vielleicht noch anderen Gründen erfolgte gegen Ende
1910 eine Zusammenkunft des Zaren, begleitet von Herrn Ssasonow, seinem
neuen Minister des Auswärtigen, mit Kaiser Wilhelm in Potsdam. Ourch
Besprechungen Kiderlen-Waechters mit Ssasonow wurde in der Haupt-
sache das Folgende vereinbart: Deutschland anerkannte besondere poli-
tische Interessen Rußlands in Persien und verpflichtete sich, nördlich einer
gewissen Linie nicht um Erlaubnis zur Anlage von Eisenbahnen, Straßen,
Schiffahrts- und Telegraphenlinien bei der persischen Regierung nachzu-
suchen. Beide Mächte kamen überein, daß der Handel aller Nationen in
Persien gleichberechtigt sein solle. Rußland erklärte, ein Eisenbahnnetz in
Persien ausbauen zu wollen, darin eine Linie so, daß deren Verbindung
mit der Bagdadbahn durch eine Querverbindung hergestellt werden könne.
Den späteren Berkehr zwischen der Bagdadlinie und den persischen Bahnen
versprach jede der beiden Mächte zu fördern. Die für Deutschland wich-
tigste Bereinbarung war die Versicherung der russischen Regierung, sie
werde den Bau der Bagdadbahn nicht hemmen. Damit war etwas Tat-
sächliches und Bedeutendes gewonnen. Rußland würde nicht mehr auf
die Türkei im alten Sinne drücken, noch auch gemeinsame Sache mit
Großbritannien und Frankreich zur Hinderung und Verzögerung der
deutschen Bagdadbahnpläne machen. In dieser Vereinbarung lag für
Deutschland überhaupt der Kern des Abkommene, in Verbindung mit dem
ebenfalls von Rußland bewilligten Anschlusse des Bagdadbahnsystemes
an das persische. Dieses freilich war noch nicht vorhanden, und seine Aus-
führung lag in weiter Ferne. Es ließ sich dabei nicht verkennen, daß Deutsch-
land seine Interessen in Persien und allen Einfluß auf Persien mit dieser
Vereinbarung aufgab, aber Herr v. Kiderlen-Waechter war der Ansicht,
daß die Wegräumung von Hindernissen für die Bagdadbahn von größerer
Wichtigkeit sei und sich ohne derartige Konzessionen nicht erreichen lasse.
Man maß damals außerdem den Potsdamer Vereinbarungen eine
hohe allgemeinpolitische Bedeutung bei. Der Deutsche Reichskanzler for-
mulierte diese am 10. Dezember 1910 im Reichstage dahin: „Als Resultat
der letzten Entrevue möchte ich bezeichnen, daß von neuem festgestellt
wurde, daß sich beide Regierungen in keinerlei Kombination einlassen,
die eine aggressive Spitze gegen den anderen Teil haben könnte. In diesem
Sinne haben wir insbesondere Gelegenheit gehabt zu konstatieren, daß
Deutschland und Rußland ein gleichmäßiges Interesse an Aufrechterhal-
tung des Status quo am Balkan und überhaupt im nahen Orient haben
und daher keinerlei Politik unterstützen werden — von welcher Seite sie auch
kommen könnte —, welche auf Störung jenes Status quo gerichtet wäre.“