26 1. Abschnitt. Von Rußland zu Großbritannten. 1887—1894.
hätte außerdem über den Inhalt des Vertrages gesagt: „Wir hätten Ruß-
land freie Hand in Bulgarien und Konstantinopel garantiert gegen die
russische Berpflichtung, in einem deutsch-französischen Kriege neutral zu
bleiben.“ Hohenlohe bemerkt dazu: „Ich fürchte, daß uns ÖOsterreich
das nicht danken wird“, und führt das damalige Wort Schuwalows an:
Caprivi habe als „trop honnste homme“ gehandelt. Man wird sich dieser
Ansicht Schuwalows heute noch anschließen müssen. Was übrigens jene
„Garantie“ deutscher Neutralität für weitaussehende russische Balkan-
unternehmungen anlangt, so war sie schwerlich im Vertrage enthalten,
sondern hätte höchstens eine speziale Anwendung des Vertrages in ge-
wissen Fällen der Praxis bedeutet. Nach den Ansichten, die Bismarck
auch in seinen „Gedanken und Erinnerungen“ über die Behandlung
russischer Orientpolitik geäußert hat, ist möglich, daß die Caprivische An-
gabe richtig war. Zieht man die weitere Konsequenz, so geht daraus
aber noch keineswegs eine Gefährdung oder Schädigung Osterreich-Un-
garns hervor, sondern dieser unser Bundesgenosse hätte am Balkan sehr
wohl auf seine Kosten kommen können. Diejenigen europäischen Groß-
mächte, welche sich dann mit Grund als schwer geschädigt angesehen haben
würden, waren nicht Österreich-Ungarn, sondern wiederum Großbritannien
und Frankreich.
Zwei neue Mächtegruppen.
Die britische Politik hatte alles Interesse, einen europäischen Zu-
stand abzuändern, der Großbritannien isoliert hielt und es in einer Weise
auf den Dreibund anwies, die um so binderlicher war, als es in keiner
politischen Frage die Unterstützung irgendeiner anderen europäischen
Macht erhalten konnte. Man braucht nur die kolonialen Reibereien zwi-
schen Deutschland und England während der achtziger Zahre zu verfolgen,
um den Beweis hierfür zu haben. Großbritannien gab, sei es früher
oder später, so gut wie ausnahmslos nach. Bekannt ist die Abbitte,
welche Lord Granville im März 1885 im Oberhause an die deutsche Re-
gierung mit ihren Kolonialbestrebungen richtete. Für den Ton, in dem
Bismarck zu jener Zeit mit der britischen Regierung verkehren konnte,
ist iene Instruktion für den deutschen Botschafter in London, Grafen
Münster, charakteristisch: „Unser Berhalten muß darauf gerichtet sein,
in Deutschland den Eindruck zu verhüten, als ob wir dem in der Tat auf-
richtig vorhandenen Wunsche des guten Einvernehmens mit England
vitale Interessen Deutschlands opfern könnten.“ Die Ocdjekte seiner
Kolonialpolitik bezeichnete Bismarck also schon im Jahre 1884 als „vitale
Fnteressen“ Heutschlands!