lagen, worum es ging, und ob er die Fähigkeit und Kraft habe, sie recht-
zeitig zu erkennen und ihnen zu begegnen.
Es scheint, daß der Reichskanzler zuerst den Prinzen Wilhelm für solch
einen Mann gehalten hat, jedenfalls sich eine Zeitlang Hoffnungen in solchem
Sinne hingegeben hat; Äußerungen, die, als von ihm getan, auch von seinem
Sohn Herbert berichtet wurden, könnten darauf schließen lassen. Außerdem
mag er eine Zeitlang geglaubt haben, daß der Prinz sich als Kaiser von ihm
anleiten und politisch erziehen lassen werde, um dann, wenn der alte Kanzler
entweder freiwillig oder durch den Tod von seinem Platz verschwände, die
Stetigkeit des in seinem großen Zuge bewährten Kurses des Reichsschiffes
gesichert sein werde. Aus jenen beiden Briefen des Prinzen und Bismarcks
Beantwortung erkennen wir bereits die Tiefe von Bismarcks Sorge und auch
deren Gründe. Das Verhalten Wilhelms II. nach Antritt seiner Regierung
lieferte den Beweis, daß er Verständnis für die Lage und ihre Gefahren nicht
hatte — ja in dem Brief über die Waldersee-Versammlung lag es bereits ent-
halten. Und hiermit kommen wir zu einem Faktor von großer und unheil-
voller Bedeutung, der sich durch das ganze Regierungsleben des Kaisers
hindurchzieht:
Es ist nichts Neues, sondern ein ‚„natürlicher‘‘ Vorgang, der sich immer
wiederholt, wenn der Thronfolger ein gewisses Alter erreicht hat. Der un-
glückliche ewige Kronprinz, der schließlich todkrank drei Monate regieren
durfte, hat die Jahrzehnte vorher schließlich resigniert und dabei tief un-
befriedigt ertragen. Die Autorität seines Vaters war, mit Grund und Recht,
so groß, daß Friedrich Wilhelm, der nachmalige Friedrich III., die Aussichts-
losigkeit, zu frondieren oder auch nur den Versuch zu machen, sich als die
bald aufgehende Sonne in den Vordergrund zu stellen, schnell erkennen
mußte. Als er in der Konfliktszeit der sechziger Jahre öffentlich schroff er-
klärte, er stehe im Gegensatz zur gesamten Politik des preußischen Minister-
präsidenten Bismarck und mißbillige dessen Regierungsakte, selbst in jener
schwersten Periode von Bismarcks Kampf gegen die Demokratie, erreichte
der frondierende Kronprinz nichts als einen väterlichen Verweis und sein
Ferngehaltenwerden von wichtigen Fragen und Akten der Regierungs-
führung; nach außen hin trug ihm dieses Erlebnis den Ruf eines liberalen
Fürsten ein, ein in Norddeutschland noch zweifelhaftes Geschenk. Bismarck
gegenüber hat auf dessen Frage bei Eintritt des Thronwechsels der Kron-
prinz Friedrich Wilhelm mit Bestimmtheit erklärt: Es sei keine Rede davon,
daß er, falls er auf den Thron kommen sollte, ein parlamentarisches Regime
einführen werde. Bei der Schwäche des Charakters Friedrich Wilhelms muß
gleichwohl als sehr zweifelhaft angesehen werden, ob er unter dem Einfluß
seiner Gattin, des englischen Hofes überhaupt und seiner zahlreichen libe-
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