Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Kein lästiger deutscher Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident 
war mehr vorhanden, der den Kaiser an direktem Verkehr mit Staats- 
sekretären, Ministern und Geheimräten gehindert oder über solche Unter- 
redungen in Kenntnis gesetzt zu werden verlangt hätte. Nicht anders war es 
mit Abgeordneten des Reichstags und des Preußischen Landtags nicht 
anders auch, und das war bisweilen noch schlimmer, wenn der Kaiser mit 
ausländischen Gästen und den in Berlin akkreditierten Diplomaten, sogar 
mit deren Attaches und Räten je nach seinen augenblicklichen Einfällen und 
Stimmungen sprach, ohne dem Reichskanzler oder Staatssekretär des Aus- 
wärtigen vorher und selbst nachher Kenntnis zu geben oder gar vorher mit 
ihnen alles besprochen zu haben. So griff bald ein chronischer Zustand fort- 
währender Unsicherheit und Nervosität Platz für Kanzler und Minister und 
schließlich in weiten Volkskreisen: welche schlimme Überraschung würde es 
morgen geben ? 
Schon im Juni 1890 schrieb Hohenlohe in sein Tagebuch: ‚Zwei Dinge 
sind mir in den drei Tagen, die ich hier (in Berlin) jetzt zugebracht habe, auf- 
gefallen: erstens, daß niemand Zeit hat, und alle in größerer Hetze sind als 
früher; zweitens, daß die Individuen geschwollen sind. Jeder einzelne fühlt 
sich. Während früher, unter dem vorwiegenden Einfluß des Fürsten Bis- 
marck, die Individuen eingeschrumpft und gedrückt waren, sind sie jetzt 
alle aufgegangen wie Schwämme, die man ins Wasser gelegt hat. Das hat 
seine Vorzüge, aber auch seine Gefahren. Der einheitliche Wille fehlt." Wozu 
allerdings bemerkt werden muß, daß auch Fürst Hohenlohe zu denen ge- 
hörte, die oft in Berlin anwesend waren, um sich der Gunst des neuen 
Kaisers zu versichern. 
Der einheitliche Wille fehlte in der Tat, und nicht nur der, sondern die 
Autorität, die auf Sachkunde, Übersicht, Erfahrung und auf überlegtem, 
durchdachtem Urteil beruht. Der Reichskanzler Caprivı ebenso wie der 
Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Marschall — dieser war bis da- 
hin Staatsanwalt gewesen — hatten vorher nie etwas mit auswärtiger Politik 
zu tun gehabt. Caprivi hatte den Ausspruch getan, er komme sich vor, als ob 
er plötzlich in ein dunkles Zimmer getreten sei. Gleichwohl hatte er nicht für 
nötig gehalten, sich von Bismarck das Amt übergeben zu lassen, auch keine 
einzige Frage an ihn gerichtet. Ihm genügte der Befehl des Kaisers, um das 
Amt zu übernehmen, und der eiserne Bestand des Auswärtigen Amtes, Herr 
von Holstein, erhielt und behielt auf diese Weise eine Macht und eine Be- 
deutung, die sich unheilvoll genug für die Politik des Reiches auswuchs. Es 
ist eine Tatsache, die selbst der Zurückschauende als beschämend empfindet, 
daß von 1890 bis 1907 dieser Mann einen.ungeheuren, oft bestimmenden Eın- 
fluß auf die auswärtige Politik, auf die Personenbesetzung wichtiger Stellen 
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