gegangene Gedanke, daß die deutsche Außenpolitik während der gefähr-
lichen Zone des Flottenbaues, also bevor die Flotte zu einem erheblichen
Machtfaktor geworden war, nach Möglichkeit vermeiden mußte, in ernste
Konflikte mit europäischen Großmächten zu gelangen. Auch von diesem
Gesichtspunkt betrachtet war übrigens die deutsche Marokko-Politik fehler-
haft. Im übrigen hat Bülow als Staatssekretär des Auswärtigen und nachher
als Reichskanzler diese nicht immer leichte Aufgabe erfüllt. Erst dem Reichs-
kanzler Bethmann-Hollweg war es vorbehalten, auf der einen Seite die Voll-
endung des Flottenbau-Programms fortwährend schwer zu gefährden und
auf der anderen Seite durch Ungeschicklichkeit und psychologische Ver-
kennung Großbritanniens schwerste Krisen hervorzurufen und schließlich
England die Gelegenheit zu geben, den Weltkrieg zu entfesseln.
Zur Charakteristik der damaligen Lage muß hierzu noch folgendes gesagt
werden:
Dem Auswärtigen Amt und in den deutschen Botschaften, Gesandt-
schaften usw. war der Flottenbau ein schwerer Stein des Anstoßes von dem
Augenblick an, als man sah, daß er wirklich durchgeführt wurde. Es war
ganz natürlich und nicht zu vermeiden, daß die deutsche Flottenpolitik
komplizierend und damit erschwerend auf die deutsche Außenpolitik über-
haupt, besonders während der Dauer jener ‚gefährlichen Zone‘, der Periode
der Schwäche zur See und damit der Gefahr eines plötzlichen englischen An-
griffs, einwirkte. Den Staatssekretären des Auswärtigen und ihren Beamten
erschien der Flottenbau durchaus unnötig, und wohl keine einzige unter
allen jenen Persönlichkeiten hat sich überhaupt, geschweige denn vor-
urteilslos mit der Materie wirklich beschäftigt. Die Folge war, zum Teil
schon unter Bülow, vollends unter Bethmann-Hollweg, daß die Organe der
deutschen Außenpolitik, und nach Bülow auch der Reichskanzler, durch
Widerstände und Winkelzüge aller Art einen Dualismus sehr schädlicher und
gefährlicher Art in die deutsche Außenpolitik hineinbrachten. Wilhelm II.
war zu schwach, um hier — was dringend notwendig gewesen wäre — reinen
Tisch zu machen. Es war ein unmöglicher Zustand, jenes fortwährende Tau-
ziehen zwischen dem Kanzler und dem Auswärtigen Amt einerseits, dem
Staatssekretär des Reichsmarineamts andererseits. Es mußte Entweder-
Oder heißen: entweder Flottenbau und entsprechende Außenpolitik, bei
voller, verständnisvoller Einigkeit der leitenden Persönlichkeiten, oder man
mußte sich mit einer kleinen, ‚Anstandsflotte‘‘ begnügen und den Marsch zur
Weltgeltung abbrechen. Hätte der Kaiser nach Bülows Entlassung den Ad-
miral von Tirpitz zum Reichskanzler gemacht, so wäre die notwendige Ein-
heit dagewesen, denn der Großadmiral, wie heute wohl meistens anerkannt
wird, ist die einzige Persönlichkeit gewesen, die auch als Staatsmann be-
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