deutschen Volke und Lande Heil und Segen kommen! Und die ebenso
schlimme Verkennung: alles, worauf wir Deutschen heute stolz sind, zumal
die endliche Einigung der deutschen Stämme und Staaten zum Reich, ist
ausschließlich die Tat des großen Kaisers Wilhelm I., meines Großvaters,
und des großen Heerführers, seines Sohnes, meines Vaters!
Es ist nicht in Abrede zu stellen, daß die persönliche Bedeutung Wil-
helms I., je älter er wurde, desto mehr in Deutschland unterschätzt wurde.
Man sah in ihm schließlich nur den gütigen Greis von höchster Pflichttreue
und Würde, mit dem leisen oder lauten Zusatz: aber Bismarck macht doch
alles! Wer sich überlegte, daß Wilhelm I. im Vorfrühjahr 1888 mit beinahe
neunzig Jahren starb, hätte sich auch nicht wundern dürfen, daß Bismarck
den Kaiser im allgemeinen lenkte, aber durchaus nicht immer mit Erfolg,
z. B. als er einen nationalliberalen Minister ins Reich bringen wollte. Wil-
helm I. als Persönlichkeit und als König und Kaiser, ist geradezu ein Segen
für die beiden Anfangsjahrzehnte des Zweiten Reiches gewesen, schon wegen
der beispielhaften Höhe seines Herrscherniveaus, seines gänzlichen Mangels
an Überheblichkeit, Eitelkeit und an Pose, seiner Einfachheit, Gerechtig-
keit, Treue und Charakterfestigkeit. Dabei war ihm die Eigenschaft eines
scharfen und richtigen Blickes für den Wert von Persönlichkeiten eigen, eine
Fähigkeit, die für niemanden so wichtig ist, wie für den Herrscher und für
die Nation, über die er herrscht. Wilhelm I. hat sich nie als etwas anderes be-
trachtet, und ist nie etwas anderes gewesen, als der erste Diener des Staates,
des Reiches. Er besaß auch die große Eigenschaft, die Grenzen seiner Fähig-
keiten zu kennen, dieser Kenntnis praktisch Folge zu geben und daraus nie
ein Hehl zu machen.
In seinen Reden, die besonders während des ersten Jahrzehnts seiner
Regierung sehr zahlreich waren, hat sein Enkel, Wilhelm II., selten eine
Rede gehalten, in der er nicht seinen Großvater gepriesen hätte. Sonder-
barerweise aber nicht die hohen Eigenschaften, die dieser tatsächlich gehabt
hatte, nicht seine eigentliche Lebensarbeit, sondern er schrieb Wilhelm 1.
gerade das zu, was ihm nicht eigen gewesen war. Das Musterbeispiel einer
solchen Rede, gehalten 1897 auf dem jährlichen Festmahl des Branden-
burgischen Provinzial-Landtages, sei im folgenden skizziert:
Oft habe man versucht, im Laufe der deutschen Geschichte, das Reich zu-
sammenzufassen. Keinem Kaiser sei dies gelungen, für kurze Zeit höch-
stens: Friedrich Barbarossa. Dann sei es aus gewesen, als ob niemals der
Mann kommen sollte. Aber: ‚Die Vorsehung schuf sich dieses Instrument
und suchte sich aus den Herren, den wir als den ersten großen Kaiser des
neuen Deutschen Reichs begrüßen konnten.‘ Langsam sei er herangereift,
15 Reventlow: Von Potsdam nach Doorn 353