VIERTER ABSCHNITT
Wesenszüge Wilhelms II.
Byzantınısmus und Autobyzantinismus
In den vorhergehenden Abschnitten warfen wir Streiflichter auf die haupt-
sächlichen Ereignisse und den Verlauf der Außenpolitik unter der Leitung
Wilhelms II. Manche persönlichen Eigenschaften des Kaisers sind da als
typisch an sich und als verhängnisvoll für den Gang der Dinge hervor-
getreten. Um seine Handlungen und Unterlassungen und deren Wirkungen
in der inneren Politik und in der Nation zu verstehen, ist nötig, uns mit den
Hauptwesenszügen Wilhelms II. zu beschäftigen.
Der Hofmarschall des Kaisers, Graf Zedlitz, schrieb im Herbst 1904 in
sein Tagebuch über ein Gespräch des Kaisers mit dem damals berühmten
Professor Slaby von der Technischen Hochschule: ‚‚Dieser Gelehrte, den
ich wirklich außerordentlich hochschätze und verehre, kennt aber leider in
bezug auf Schmeichelei und Liebedienerei gar keine Grenzen mehr. Nachdem
er dem Kaiser gegenüber mehrfach hervorgehoben, wieviel Widerstand
Allerhöchst Derselbe bei mannigfachen Gelegenheiten gefunden, und wie
seine Gegner schließlich doch ihren Irrtum einsehen müßten, war es nur na-
türlich, daß der Kaiser schließlich sagte: „Ja, das ist es ja, Meine
Untertanen sollten einfach tun, was Ich ihnen sage, aber
Meine Untertanen wollen immer selber denken, und daraus
entstehen dann alle Schwierigkeiten.“ Der so moderne Kaiser
dachte und sprach nach 1900 noch genau wie die reaktionäre preußische
Bürokratie der Metternich-Zeit des neunzehnten Jahrhunderts, nur daß ihm
der Mut zum Handeln fehlte. — Zur Person des Grafen Zedlitz sei kurz be-
merkt: als er seine Aufzeichnungen in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre
veröffentlichte, wurde dieser Akt, besonders in seinen Gesellschaftskreisen,
schwer getadelt ;.man brach den Verkehr mit ihm ab. Das, und die Frage, ob
er anständig gehandelt habe oder nicht, ändert nichts daran, daß seine Auf-
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