Full text: Von Potsdam nach Doorn.

hatten, wechselte der Kaiser plötzlich die Rolle und fand aus Furcht: sonst 
handeln zu müssen, die Pose des abgeklärten, weitblickenden Staats- 
mannes: die Sozialdemokratie sei nicht gefährlich, sie werde sich ‚‚austoben‘““. 
In früheren Perioden seiner Regierung schon hatte er ähnlich gesprochen 
und dann waren, nach sozialdemokratischen Streikerfolgen und Wahl- 
erfolgen und Zeitungsartikeln, Vorlagen gekommen — aber nichts weiter! 
Waldersee schreibt schon im Jahre 1895 in sein Tagebuch: ‚‚Ein kluger 
Mann, der seit Jahren viel am Hofe verkehrt, besuchte mich heute. Vom 
Kaiser sagte er: ‚Glauben Sie mir, er mag noch so entschieden sprechen, 
wenn es wirklich ernst wird mit den Sozialdemokraten, läßt er niemals 
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schießen. 
In diesen Zusammenhängen kommt die in einem vorhergehenden Ab- 
schnitt behandelte Frage: welche Politik und Stellungnahme gegenüber der 
Sozialdemokratie richtig gewesen wäre und welche unrichtig, nicht in Be- 
tracht, sondern nur der Nachweis der hauptsächlichsten Wesenszüge des 
Kaisers. Wir erkennen diese Wesenszüge in der Innenpolitik als genau die- 
selben wie in der Außenpolitik: der lärmende, anspruchsvolle Auftakt, das 
bedingungslose Sichfügen oder Zurückweichen, sobald ernsthafte Hinder- 
nisse auftreten oder gar Gefahr in Sicht zu kommen scheint, und Schlußakt 
durch Aufführung der Szene von den sauren Trauben! In ihrer häufigen Auf- 
führung unterscheidet sie sich nur durch die Verschiedenheit der jeweiligen 
Kulissen, wie diese durch die Aktualitäten bedingt wurden. 
Es war nur natürlich, daß schon gegen Mitte des ersten Jahrzehnts seiner 
Regierung auch in der deutschen Bevölkerung kein Glaube mehr an Tat- 
kraft, vollends an Beharrlichkeit und Führerkraft des Kaisers mehr vor- 
handen war. Die Sozialdemokratie besonders hatte dies sehr schnell heraus. 
Sie sah zwischen den drohenden, tönenden Reden die innerliche Kraftlosig- 
keit, Ratlosigkeit und Zaghaftigkeit. Auffallend ist, wie einheitlich schon 
nach wenigen Jahren der Regierung des Kaisers ohne Bismarck die in 
Lebenserinnerungen und Tagebüchern niedergelegten Urteile von Men- 
schen — die den Kaiser oft in der Nähe sehen, hören und sprechen konnten — 
über seine Eigenschaften sind. 
Mimicry, Scherze und Reklame 
Alle diese Urteile werden durch die Art seines tatsächlichen Handelns und 
Unterlassens bestätigt. Sogar in „Kaiser Wilhelm II. und die Byzantiner“ 
hat der Verfasser, der ohne persönliche Beziehungen und Kenntnisse über 
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