Full text: Von Potsdam nach Doorn.

Politiker werden. Der Kaiser dehnte diesen Befehl und diese Charakteristik 
jedoch nicht auf die katholische Geistlichkeit aus und erwähnte diese über- 
haupt nicht in seiner Depesche. Man mußte sich damals fragen und fragte 
sich auch, ob dem Kaiser denn unbekannt war, wie viele Prälaten und 
Kapläne im Reichstage und in den Parlamenten der einzelnen deutschen 
Bundesstaaten saßen, intensiv und fanatisch Politik trieben und daneben in 
gleicher Weise ihre geistlichen Ämter ausübten. Vollends, ob dem Kaiser 
entgangen sei, daß in jedem parlamentarischen Wahlkampfe die gesamte 
katholische Geistlichkeit zur politischen Agitation mobilisiert wurde und 
unter stärkster Betonung auch ihrer geistlich-priesterlichen Autorität. Und 
schließlich: konnte es dem Kaiser entgangen sein, daß führende Geistliche 
der Zentrumspartei nicht eben selten Wahlkompromisse mit der Sozial- 
demokratie geschlossen hatten ? 
Die katholische Geistlichkeit wurde im Gegenteil vom Kaiser mit der 
Anrede ‚die edlen Herren der Kirche‘ nicht lange nach dem Stoecker-Tele- 
gramm aufgerufen: „mit ihrer ganzen Arbeit und mit Einsetzen ihrer ganzen 
Persönlichkeit dafür zu sorgen, daß die Achtung vor der Armee, das Ver- 
trauen zur Regierung immer fester und fester werde‘; eine eindringliche 
Aufforderung also gerade zur politischen Tätigkeit; eine Mahnuug an 
Reineke Fuchs! Auch dessen wird sich der Kaiser schwerlich bewußt ge- 
worden sein. Vielleicht ebensowenig dadurch, daß er mit jeder seiner tiefen 
Verbeugungen vor der römischen Kirche und ihren Würdenträgern die 
geistlichen Träger der Evangelischen Kirche vor den Kopf stieß, er, der 
Summus Episcopus! 
In diesem wirren Zusammenhange von Gegensätzlichkeiten, Oberfläch- 
lichkeiten, Ansichtswechseln, Inkonsequenzen und plötzlichen Einfällen 
darf ein, vielleicht mit am stärksten einwirkendes, persönliches Moment 
nicht vergessen werden: dem Kaiser imponierte die Katholische Kirche als 
Ganzes und in ihren einzelnen hohen Repräsentanten, ihren Einrichtungen 
und Bräuchen, ihrer Tradition und Geschichte tief. In der Evangelischen 
Kirche fand er nichts Ähnliches, außerdem konnte er jeden evangelischen 
Geistlichen versetzen lassen, disziplinieren lassen oder seine Entfernung aus 
dem Amte bewirken. Der evangelische Geistliche war ihm ein gewöhnlicher 
Untertan, der römisch-katholische Priester ein edler Herr der Kirche. 
Während jener Jahrzehnte, auch gerade während dieser Bemühungen des 
Kaisers, lebte der Krieg in Deutschland zwischen der Evangelischen und der 
Katholischen Kirche ununterbrochen weiter, man stritt, beschimpfte ein- 
ander in Wort und Schrift und versuchte, einander Abbruch zu tun, wie nur 
immer möglich. So mußte nicht allein der Geistlichkeit, sondern auch dem 
399
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.