Full text: Von Potsdam nach Doorn.

evangelisch gläubigen Teil der Bevölkerung die Haltung des Kaisers sehr 
betrübend sein und nicht selten als eine Parteinahme erscheinen. Gelegent- 
lich wurde auch von katholisierenden Neigungen Wilhelms II. gesprochen. 
Dies traf zweifellos nicht zu, denn der Kaiser hat wohl, und sogar ohne 
Unterbrechung, immer auf dem Boden des evangelischen Christentums ge- 
standen und es einer Verwandten seines Hauses sehr übelgenommen, als sie 
zum Katholizismus übertrat. Der Klerus aber imponierte ihm. 
Die Reinheit seiner Absicht, die römische Kirche und deren Angehörigen 
in Deutschland zu ‚‚versöhnen‘“, soll nicht bestritten werden, erreicht hat sie 
Ihr Ziel nicht. Sie gab dem politischen Katholizismus nur politisch und reli- 
gıös stärkere Waffen in die Hand und förderte die Zwietracht zwischen den 
beiden Kirchen. Das Wesen des politischen Katholizismus hat der Kaiser 
überhaupt nie erkannt und damit ebensowenig dessen Zusammenhänge mit 
den: aufrührerischen Kampf des Polentums in Deutschland. Es bestand hier 
in gewissem Sinne eine Parallele: nicht nur die polnischen Geistlichen, son- 
dern auch gewandte und persönlich einnehmende Angehörige des polnischen 
Adels haben verstanden, den Kaiser und König immer wieder hinters Licht 
zu führen mit Versicherungen ihres treuen preußischen Patriotismus, so 
wenn die polnischen Abgeordneten des Reichstages eine Zeitlang für die 
Marinevorlagen stimmten unter der Führung des Grafen Koszielski, der 
deshalb Admiralski genannt wurde. Wenn dann durch Beschwerden und 
Rufe der Empörung aus dem deutschen Osten die polnische Maske ab- 
gerissen wurde, hielt der Kaiser zornige Reden, die gelegentlich dann wieder 
durch politische Versöhnungen oder durch bald folgende Ermattung der 
Polenpolitik unwirksam gemacht wurden. 
Die Nörgler und Schwarzseher 
Vielleicht mag dem größten Teil der gegenwärtigen und den kommenden 
Generationen schwer begreiflich sein, daß Kaiser Wilhelm II. bis zum Jahre 
1908 in der — sagen wir: Überzeugung oder Einbildung oder einer Selbst- 
täuschung, zu der ihn sein Wesen zwang, sich befunden hat: daß sein zi- 
tiertes Wort: ‚„Herrlichen Tagen führe Ich euch noch entgegen!“, sich fort- 
schreitend verwirkliche, daß er das Reich und das Volk, seine Untertanen 
ununterbrochen im Inneren und nach Außen zu immer erhabneren Höhen 
emporführte. Fest überzeugt war Wilhelm II. davon, daß tatsächlich er, 
und allein, führe, daß sein Befehl in der von ihm gewiesenen Richtung alles 
in Bewegung setzte und das von ihm gesetzte Ziel erreiche. Wer Kritik 
übte, wurde vom Kaiser als Schwarzseher und Nörgler verdammt. Bald 
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